Versetzt gestapelt bietet sich der Wohnkomplex „The Interlace“ in Singapur dar © OMA, Ole Scheeren, Foto: Iwan Baan
Häuser hören nicht an der Gebäudekante auf – ein Grundsatz, den selbst Architekten gern vernachlässigen. Der Außenbereich interessiert die meisten Vertreter der Zunft höchstens als Standort für das nächste Bauprojekt. Anders Ole Scheeren. Mit seinem Wohnkomplex „The Interlace“ in Singapur hat er einen sozialen Organismus geschaffen, der sich auf eine großzügige Grünanlage mit Pools und tropischen Bäumen hin öffnet. Ausgefeilte Bautechnik und überraschende Formensprache verfolgen zugleich den Anspruch, die Natur in den urbanen Ballungsraum zurückzuholen. Die Hausblöcke wachsen nicht steil in den Himmel, sondern wurden quer gelegt und versetzt übereinander gestapelt. Eine „vertikale Dorfstruktur“ habe ihm vorgeschwebt, verriet Scheeren in einem Gespräch mit der Deutschen Presseagentur: „Es ging um die Frage, wie wir den Lebensraum der Menschen sowohl im individuellen als auch kommunalen Sinn neu definieren und daraus eine Gebäudestruktur entwickeln können.“
Wer ist der Stararchitekt mit badischen Wurzeln, dessen Schaffensschwerpunkte im asiatischen Raum liegen? In seiner Geburtsstadt Karlsruhe versucht das Zentrum für Kunst und Medien jetzt, sich dieser Frage anzunähern. Unter dem Motto „Spaces of Life“ fasst die Schau das bisherige Œuvre des 1971 Geborenen zusammen. Dabei rückt nicht zuletzt die ökologische Relevanz von Scheerens „Lebensräumen“ in den Mittelpunkt. Zum Beispiel mit dem ebenfalls in Singapur entstandenen Hochhauskomplex DUO. Dessen konkav geschwungene Stahlbetonriesen sind so ausgerichtet, dass sie die Windströme geschickt kanalisieren und die Temperaturen im schwülheißen Stadtklima etwas erträglicher gestalten.
Scheerens Aufstieg in den Baumeister-Olymp begann mit der Sendezentrale des chinesischen Staatsfernsehens: 2013 wurde der frech übereck gestellte und in der Luft verbundene Doppelturm als „Bestes Hochhaus“ des Jahres ausgezeichnet. Zu den Markenzeichen des Architekten gehört, dass er gern die Grenzen des statisch Möglichen ausreizt. Mit weit auskragenden Terrassen, hängenden Gärten und Wolkenkratzern wie dem MahaNakho Tower in Bangkok, dessen Pixelfassade aussieht, als würde sie auseinanderbröckeln.
Bei aller ästhetischen Experimentierlust behält Scheeren stets im Blick, dass er für Menschen baut. Das spektakuläre „Interlace“-Ensemble jedenfalls bringt etwas vom gemeinschaftsorientierten Geist fernöstlicher Fischerdörfer in die globalisierte Megacity. Insofern können auch deutsche Städte, die wohnungspolitisch gerade am Scheideweg stehen, viel von Scheerens westöstlicher Ingenieurskunst lernen.
Georg Leisten im OPUS Kulturmagazin Nr. 95 (Januar / Februar 2023)
Bis 4.6.