Meerjungfrauen © Besnik Spahijaj
Nicht nur gilt das Wasser schon seit der Antike als weibliches Element, traditionsgemäß werden auch die Gewässer dieser Welt von zahlreichen weiblichen Mythengestalten besiedelt: Von Nixen und Najaden, von Sirenen und Meerjungfrauen, Undinen und Melusinen. Die Vorstellung von mächtigen Wasserfrauen mit übernatürlichen Kräften ist dabei eine uralte: In den Mythologien zahlreicher antiker Völker gab es Göttinnen, die aus dem Wasser kamen. In der griechischen Mythologie ist der Typus der Wasserfrau vor allem durch die Nereiden und die Okeaniden vertreten. Waren diese in ihrem Wesen noch schlicht als freundlich-heiter charakterisiert, sollte schon bald auch die Wasserfrau zur Projektionsfläche von Geschlechter-Diskursen werden.
Die Assoziation der Frau mit dem Wasser ist erst einmal nichts Verwunderliches, schließlich sind beide gleichermaßen Quell des Lebens. Doch so wie das Wasser Leben und als unbezwingbare Naturgewalt eben auch den Tod bringen kann, wird auch dem Weiblichen ein gewisser zerstörerischer, todbringender Impetus angedichtet. Es sind insbesondere die Sirenen, die von dieser vermeintlichen Kehrseite des Weiblichen zeugen: Waren sie zunächst als Seelen Verstorbener in den Körpern von Vögeln mit Frauenköpfen charakterisiert, werden sie schon in Homers Odyssee als durch ihren verführerischen Gesang Vorbeifahrende in den Tod lockende Frauen zum Sinnbild weiblicher Bedrohung. In den späteren Umdichtungen der Odyssee gelangen die Sirenen aus
verschiedenen Gründen zu ihrem Fischschwanz: Mal, weil sie sich vor Verzweiflung, dass Odysseus ihren Gesängen widerstehen konnte, ins Wasser stürzen, mal, weil ihre Insel mit ihnen zusammen versinkt. Der Untergang der Sirenen wird in der Forschung, unter anderem von Helga Trüpel, als Untergang der weiblichen Gottheiten und somit Sieg des Patriarchats verstanden.
Ging von den antiken weiblichen Wasserfrauen noch eine gewisse Macht aus, werden sie ab dem Mittelalter nur noch als das Andersartige, diffus Bedrohliche konstruiert. So bringt die im 12. Jahrhundert entstehende Gestalt der Melusine dem Ritter, der sich mit ihr in ihrer Menschengestalt einlässt, zwar Ansehen und Reichtum, tötet ihn allerdings auch, wenn er das Betrachtungsverbot bricht und sie in ihrem Fischkörper beobachtet. Spätestens mit den Melusinen und der verstärkten Undine-Rezeption nach Friedrich de la Motte-Fouqués 1811veröffentlichter Märchennovelle „Undine“ ist die Wasserfrau zum Sinnbild des von Simone de Beauvoir beschriebenen „anderen Geschlechtes” geworden. Was die Gesellschaft der Frau im Allgemeinen zuschreibt – die erotisch-ästhetische Objektifizierung, der Status als Nicht-Ergründbares und schließlich die von ihr ausgehende diffuse Bedrohung, kurz gesagt: ihr Changieren zwischen Hure und Heilige –, wird in der Figur der Wasserfrau zu einem kondensierten Bild überhöht.
In der wohl berühmtesten literarischen Verarbeitung des Wasserfrauen-Stoffes, Hans Christian Andersens Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ (1836), ist der Wasserfrau nicht nur jegliche Handlungsmacht abgängig, wie sie etwa die Melusinen und Undinen noch hatten, nein, ihr wurde sogar die Stimme geraubt. Nach der Jahrtausende währenden von Männern erschriebenen Degradierung der Wasserfrau vom mächtigen, überlegenen Subjekt hin zum stimmlosen Objekt, verwundert es nicht, dass Ingeborg Bachmann mit ihrer Erzählung „Undine geht“ 1961 zum Gegenschlag ausholte. Nicht nur klagt sie die Menschen mit „Namen Hans” – anders gesagt: den Mann als Kategorie – als unterdrückende, selbstsüchtige „Ungeheuer” an, sie reklamiert auch die Macht der (Wasser-)Frauen, indem sie mahnt: „Mein Gelächter hat lang die Wasser bewegt, ein gurgelndes Gelächter, das ihr manchmal nachgeahmt habt mit Schrecken in der Nacht. Denn gewußt habt ihr immer, daß es zum Lachen ist und zum Erschrecken […]”*.
Isabell Schirra im OPUS Kulturmagazin Nr. 86 (Juli/August 2021)
*Auszug aus: Bachmann, Ingeborg: „Undine geht”. In: dies. Das dreißigste Jahr. München, Piper, 2020, S. 179.