Szene aus „Die Möwe“ mit Giovanni Rupp als Arzt Dorn und Carolin Freund als Mascha © Benjamin Westhoff
Grelle, sinnentleerte Welt
Frank Hoffmann inszeniert Tschechows Drama „Die Möwe“ als Groteske
„Wir brauchen eine neue Form“, fordert der junge Mann vor dem geschlossenen Vorhang. Seine Forderung richtet sich gleichermaßen an das Publikum unten im Saal, wie an die Kunst selbst. Und nicht zuletzt gilt sie der in ihrer alten Ordnung wie in ihrem Kunstverständnis erstarrten Gesellschaft, um die es hier gleich geht. Anton Tschechows Drama „Die Möwe“ in der Inszenierung von Frank Hoffmann feiert an diesem Abend im Theater Trier Premiere. Ein hochaktuelles Stück in diesen Tagen, in denen Umdenken gefragt ist und die Rolle der Kunst und des Theaters zur Diskussion steht. Wir sind im Russland des späten Zarenreichs. Auf dem Landgut von Pjotr Sorin, einem pensionierten Staatsrat, ist seine Schwester, die alternde Schauspielerin Irina Arkadina, mit ihrem Freund, dem erfolgreichen Schriftsteller Trigorin, angereist. Der eingangs zitierte junge Mann ist ihr Sohn, der Nachwuchsautor Konstantin Treplew. Mit der Uraufführung seines Dramas will er die Kunst revolutionieren und dabei gleichzeitig die geliebte, theaterbegeisterte Nina gewinnen, die darin eine Solorolle hat. Treplew scheitert auf der ganzen Linie. Bei der Gesellschaft, zu der neben dem Hausherrn, Arkadina und Trigorin, auch der Lehrer, der Arzt und der Gutsverwalter mit Familie gehören, stößt die Dystopie des Jungautors auf Unverständnis. Wütend bricht Treplew die Vorstellung ab und erschießt kurz darauf eine Möwe, das Symbol der Freiheit, und zwei Jahre später, inzwischen erfolgreich aber einsam, sich selbst. Nina folgt Trigorin als seine Geliebte nach Moskau und wird Schauspielerin, allerdings eine schlechte.
Tschechows Klassiker von 1895 stellt die Sinnfrage gleichermaßen der Kunst wie der Gesellschaft der kleinadeligen Gutsbesitzer und Kleinbürger seiner Zeit. Sein Befund ist eindeutig. Wie in den übrigen Dramen des Schriftstellers gehört auch das Personal der „Möwe“ einer sinnentleerten, in Langweile und Lethargie verharrenden Gesellschaft an, die sich mit ihren Träumen übernimmt und die den Aufbruch aus ihrer alten Ordnung und ihren Routinen nicht schafft. Was ihr bleibt sind Gehässigkeit, Eifersucht, Geiz, faule Kompromisse und untaugliche Liebschaften. In ihrem zur Pose erstarrten Leben gleichen sie der abgeschossenen, ausgestopften Möwe. Frank Hoffmann verzichtet in seiner Fassung auf eine neue Form. Er inszeniert nah am Text der Übersetzung von Thomas Brasch und nutzt bestens etablierte Ästhetiken vom ekstatischen Schrei über schnelles Sprechen bis zur Bespielung des Zuschauerraums. Einen Beitrag zur aktuellen Gender-Debatte leisten die Röcke, die Kostümbildnerin Susann Bieling den Männern angezogen hat. Als Bild der Sinnentleertheit hat Ben Willikens dem Regisseur einen bis auf ein paar Tische und Stühle leeren Bühnenraum eingerichtet. Von dort schaut eingangs die Gesellschaft auf die imaginäre Bühne des Zuschauerraums, wo Nina mit Leidenschaft Treplews Endzeit-Stück vorträgt. Mit sichtlicher Spielfreude agiert das bestens aufgelegte Ensemble. Als Arkadina überzeugt Barbara Ullmann vor allem, wo sie sich als Diva mit Realitätsverlust stilisiert. Ein herausragender Trigorin ist Thomas Jansen. Ein ernüchterter Zeitgenosse, der Ninas naive Verliebtheit ausnutzt und der viel vom Zyniker Platonow hat. Anders als Treplews weltferne Fiktion lebt seine Kunst von der banalen Realität. Als Nina ist Jana Auburger eine leidenschaftliche, schwärmerische junge Frau, die sich als Schauspielerin auf einer schäbigen russischen Provinzbühne ihren Traum von der Freiheit erfüllt. Ein wenig blass bleibt Marvin Groh als Nachwuchstalent Treplew. Hoffmann setzt auf Groteske und das bunt, schrill und mit Tempo. Eine skurrile, aus der Zeit gefallene Figur ist der Gutsherr Sorin (fabelhaft gespielt von Klaus– Michael Nix), der hier aufgemacht ist wie der greise Tolstoi. Lächerliche Gestalten sind auch der aufgeblasene Landarzt Dorn (Giovanni Rupp) und der grobschlächtige Gutsverwalter Schamrajew (Stephan Vanecek) und seine Frau Polina (Carolin Freund). Zu kurz kommt allerdings bei dem grotesken Treiben die tragische Qualität des Komischen. Sie wird zuweilen regelrecht niedergeschrien. Seiner Rolle Tragik wie Komik zu verleihen, vermag am besten Raphael Christoph Grosch als Lehrer Medwedenko. Und auch Tamara Theisen berührt als Schamrajews Tochter Mascha in ihrer wütenden Verzweiflung, die sie am ungeliebten Ehemann Medwedenko abreagiert. „Nach Moskau, nach Moskau“, der ohnmächtige Schlachtruf der „Drei Schwestern“ aus Tschechows gleichnamigem Drama ist unausgesprochen auch in seiner „Möwe“ gegenwärtig. Wer es dorthin schafft, kommt desillusioniert zurück. Wenn Nina am Ende auf einem Podest stehend, im roten Mantel vom Anfang, noch einmal Treplews Text vorträgt, ist das eher Melodram als das eingelöste Versprechen der Freiheit durch die Kunst.
Eva-Maria Reuther
theater-trier.de