Schwetzinger-SWR-Festspiel, Johanna Zimmer und Iurii Iushkevich (v.l.) mit ihren Alter Egos als Puppen @ SWR
Von Friedrich Spangemacher
Der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist schrieb mit „Kapitän Nemos Bibliothek“ einen Roman, in dem es um zwei Jungen geht, die nach der Geburt vertauscht wurden. Als die Wahrheit Jahre später ans Licht kommt, verfügt die Obrigkeit, die Jungen zurückzutauschen … Und damit beginnt eine Tragödie der Zweifel, des Suchens, der Erfahrung von Verlust und von schmerzhaften Identitätsfindungen. Dieser Roman wurde nun die Grundlage für eine zeitgenössische Oper, die die Schwetzinger Festspiele im Jubiläumsjahrgang am vergangenen Wochenende uraufführen ließen. Komponist ist Johannes Kalitzke, das Libretto schrieb Julia Hochstenbach. Es war ein ungemein spannender Abend im kleinen Rokokotheater des Schwetzinger Schlosses, mit künstlerischen Höchstleistungen und mit einer Besonderheit: Zum Sängerensemble stoßen zwei lebensgroße Puppen, die die zwei versehentlich falsch zugesprochenen Jungen im Kindesalter verkörperten. Die Oper beginnt, als der Pastor den beiden inzwischen zu Jugendlichen herangereiften Jungen erklärt, dass sie mit falschen Eltern und in falscher Umgebung groß geworden sind. Obwohl Freunde, beginnt für beide, ICH, dem Protagonisten und Johannes, seinem Freund, eine Phase der höchsten Unsicherheit, sie stellen sich die Frage nach der Identität, die Frage nach ihrer wahren Zugehörigkeit, die Frage nach ihrem Menschsein. In ihrem erdachten Refugium, der Bibliothek des Kapitän Nemo im Bauch des Unterseebootes Nautilus, versuchen sie ihre Fragen zu klären, ihren Ängsten Ausdruck zu geben, ihre eigene Geschichte zu finden, um ein neues Leben zu beginnen. Das geht am Ende nicht gut aus, denn auch die Geschichten ihrer Familien, vor allem der Mütter, spielen immer wieder hinein, in das Geschehen: die Totgeburten, die Verluste, die Erfahrungen vom Scheitern, von Lebensbrüchen. Über allem hält die Kirche ihre Hand, aber die Tröstungen sind falsch und boshaft.
Kalitzke hat dazu eine Musik geschaffen, die die ganzen Seelenlagen der Protagonisten trägt; obwohl aus einer Grund-Intervallreihe abgeleitet, entwickelt Kalitzke einen ganzen Kosmos von Äußerungsformen – vom anklagenden Schrei bis zum schrägen Choral, von stillen Stellen der Seelenruhe bis zum Aufgewühltsein des Inneren. Wenn eine der Mütter, Josefina, am Schluss singt: „Ich wollte, dass das innere Dunkel so tief wurde, dass es zerbarst und einen Gnadenstrahl einließ“, dann war das fast wie ein Charakteristikum der Musik. Sie entlehnt Musik bei Bach, bei Kinderliedern und greift Opernformen wie das Rezitativ auf. Die innere Gespanntheit lässt auf ferne Parallelen mit den Charakterzeichnungen von Benjamin Brittens „Turn of the Screw“ schließen, auch wenn Kalitzkes Partitur dagegen ungeheuer modern ist.
Die beiden Hauptrollen, ICH und Johannes, wurden von dem russischen Countertenor Iurii Ishkevich und der Sopranistin Johanna Zimmer gesungen, musikalisch vorzüglich, und mit hohem Einfühlungsvermögen in die stimmlichen Persönlichkeiten, die sie verkörpern. Dabei war die amalgamierende Annäherung frappierend. Großartig! Bewundernswert auch die Mütter, die von einer Sängerin, Noa Frenkel, verkörpert wurden, die die ganze Seelenlast der selbst eingeredeten Schuld zum Ausdruck brachte. Inszeniert hat das Stück Christoph Werner. Er ist Leiter am Puppentheater Halle und er brachte die Idee ein, die Jungen im Kindesalter als Puppen auf die Bühne zu bringen: ein zugegeben hervorragender Gedanke. So konnten Vergangenheit und Zukunft in neue Beziehungen gesetzt werden. Überhaupt hatte man das Gefühl, es werde Puppentheater mit lebenden Menschen gespielt.
Im Graben spielten Musiker des Ensemble Modern mit großen Einzelleistungen. Dazu gab es viele elektronische Klänge, etwa abgeleitet von menschlichen Stimmen beim Sprechen oder Singen, aber auch von den Instrumentalstimmen. Kalitzke selbst stand am Pult mit großer Übersicht, mit seiner Fähigkeit, die Klänge zu formen und den großen musikalischen Bogen zu spannen; eine überzeugende Arbeit zum Jubiläum.
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