Buchcover © Rowohlt Verlag
Die meisten Eltern lesen keine Lehrpläne. Glücklicherweise, denn man kann sie kaum lesen, ohne sich ernste Sorgen zu machen. Sorgen darüber, ob Lehrer sich überhaupt an sie halten können. Sorgen über Kinder, die entlang solcher Lehrpläne unterrichtet werden. Sorgen über den Verstand der Leute, die solche Lehrpläne schreiben, sowie Sorgen über den Verstand derjenigen, die sie politisch absegnen.
In Lehrplänen steht nämlich beispielsweise für Grundschüler der vierten Klasse in Deutsch dieses: „Die Kinder entwickeln eine demokratische Gesprächskultur und erweitern ihre mündliche Sprachhandlungskompetenz“. Die Kinder sollen also im Alter von neun Jahren etwas entwickeln, was es gar nicht gibt. Denn was wäre das denn, eine demokratische Gesprächskultur: Dass jeder mal drankommt? Dass darüber abgestimmt wird, wer reden darf und worüber geredet wird? Dass in der Interaktion die Mehrheit entscheidet? Oder meint der Lehrplan, die Kinder sollten einander zuhören und einander ausreden lassen, was sie aber deutlich von Parlamentariern und den Insassen der Talk-Shows unterscheiden würde.
In Berliner Grundschulen gehört die „Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbst- und Mitbestimmung sowie zum solidarischen Handeln“ zur Bildung. Dort tragen auch „Erfahrungen mit der Interaktivität“ des Internet „dem Navigieren in Hypertexten und der Reproduzierbarkeit von Texten zur Entwicklung der Lernkultur bei“. In Nordrhein-Westfalen sollen die Schüler in der Grundschule unter anderem lernen, „in religiösen und weltanschaulichen Fragen persönliche Entscheidungen zu treffen“ sowie „die grundlegenden Normen des Grundgesetzes und der Landesverfassung zu verstehen und für die Demokratie einzutreten“.
In Rheinland-Pfalz wird dem Kunstunterricht in der Klasse 8 zugetraut, folgende Lernziele zu erreichen: „Kenntnis der Farbfunktionen“, welche da sind: Gegenstandsfarbe, Erscheinungsfarbe, Symbolfarbe, absolute Farbe und Ausdrucksfarbe, außerdem „Kenntnis unterschiedlicher Konzeptionen von Malerei“, von „Bildgattungen wie Landschaftsbild, Genrebild, Porträt, Stillleben“, Vermittlung der „Fähigkeit nach ausgewählten Konzeptionen Studien und Bildobjekte herzustellen“ und zwar anhand von „Bildbeispielen aus Realismus, Expressionismus, Impressionismus und Gegenwart(!)“. Man könnte die Kinder danach unmittelbar zum Studium der Kunstgeschichte anmelden.
Lehrpläne enthalten nicht nur illusorische Leistungserwartungen und verblasene Redensarten – „für die Landesverfassung eintreten“ -, sie schreiben den Kindern auch ein Reflexionsvermögen zu, das selbst für Erwachsene erstaunlich wäre. In Baden-Württemberg beispielsweise sollen die Schüler der dritten Klasse sich in Mathematik fragen: „Wie hast du die Aufgabe gelöst? Warum hast du die Aufgabe so gelöst? Welche Rechenwege sind geschickt? Ist der Rechenweg nachvollziehbar? Warum ist das so?“ In Niedersachsen wiederum übernehmen die Schülerinnen und Schüler in der Grundschule „Verantwortung für die orthographische Richtigkeit ihrer Texte“.
Die Beispiele lassen sich leicht vermehren. Lehrpläne, das zeigen sie alle, sind Wunschlisten, die gar kein Ende finden. Sie haben nichts mit den Möglichkeiten des Unterrichts zu tun und auch nichts mit denen der Kinder in den entsprechenden Altersstufen. Alles, was Erwachsene an Werten und an Inhalten gut finden, wird in sie hineingeschrieben. In zwei Stunden Geschichte pro Woche sollen in einem Halbjahr mindestens die neolithische Revolution, die Ägypter, die Griechen und die Römer behandelt werden. Weshalb nicht die Mesopotamier, sie haben viel mehr erfunden als die Ägypter? Weshalb acht Stunden für die Griechen und zwölf für die Römer? Weil sich der Senat und die Konsuln, Cäsar und Augustus besser abfragen lassen, oder weil sie wichtiger sind als Homer, Perikles und Sokrates? Lehrpläne geben keine Begründungen. Sie schütten nur Stoff über dem Unterricht aus, blind dafür, dass er nur sinnvoll ist, wenn allen Beteiligten einleuchtet, weshalb er unterrichtet wird. Phrasen wie die, in Griechenland sei die Demokratie entstanden und Rom sei wichtig für das Verständnis von Herrschaft, helfen dabei nicht.
Lehrpläne sind jedoch nicht nur arm an Begründungen, sie sorgen auch für einen gehetzten Unterricht. Denn so viel stopft eine Bildungsbürokratie in sie hinein, die sich das gute Gewissen machen will, alles Wichtige komme in ihnen vor, dass die Lehrer ständig in der Sorge leben, mit dem Stoff nicht durchzukommen. Darum bleibt nach Prüfungen kaum Zeit, mit denen, die nicht gut abgeschnitten haben, die Sachen noch einmal anhand ihrer Fehler und ihres erreichten Verständnisses durchzugehen. Wir müssen weiter im Stoff, heißt es.
Wir wäre es also, angesichts so viel Unsinn, der von Lehrplänen ausgeht, sie abzuschaffen? Soll heißen: Die Lernziele auf ganz wenige, aber realistische zu reduzieren. Den Lehrkräften die Freiheit zu geben, nur die Römer oder nur die Griechen oder beide nach den Gewichtungen zu unterrichten, die ihnen selbst einleuchten. Exemplarisch also dort zu unterrichten, wo das sinnvoll ist (nicht in Mathematik und den Grundlagen des Deutschen). Und den Schulen die Freiheit zu geben, die Gewichtungen in der Stundentafel zu verändern, sofern es gute Begründungen dafür gibt. Das Argument dagegen lautet meist, es bräche dann an den Schulen die Willkür aus. Als wäre nicht der Lehrplan die merkwürdigste Form von pädagogischer Willkür, die wir kennen.
Jürgen Kaube im OPUS Kulturmagazin 78 (März / April 2020) zum Schwerpunktthema Bildung