Carmen Seibel hoch zu Ross als Jeanne d’Arc und Mitgleider des Gesangsensembles © Martin Kaufhold
Die heilige Johanna als Hauptfigur einer Multi-Media-Oper
Wenn sich die Handlung einer Oper im 15. Jahrhundert zuträgt, die Musik jedoch in das hochromantische Klangbild des 19. Jahrhunderts getaucht ist und dann im 21. Jahrhundert gespielt wird, drängt sich die Frage auf: „Was nun?“ Das Saarländische Staatstheater gab am vergangenen Samstag darauf eine überraschende Antwort: Bei der nicht ganz ausverkauften Premiere von Peter Tschaikowskys Oper „Die Jungfrau von Orléans“ übertrug man den gesamten Fragekomplex in die Verantwortung eines Berliner Musiktheaterkollektivs (es nennt sich „Hauen und Stechen“). Und dieses junge Team brachte all das mit nach Saarbrücken, was im Publikum zunächst wohl nicht überall nur Freude auslöste: filmische Überlagerungen vor einem Blue Screen, Liveübertragungen eines Kameramanns aus dem Zuschauerraum oder von der Bühne, aber auch Schaltungen in den Regieraum oder zu einem Pausentalk der weiblichen Hauptrollen hinter der Bühne, alles getreu dem Grundsatz: „Oper ist ein Gesamtkunstwerk, das wir mit den heute möglichen Mitteln umsetzen wollen“. Dabei gab es offensichtlich eine Verständigung, nämlich dass gegen die Zuhilfenahme neuer und neuester digitaler Mittel auf der Bühne dann nichts einzuwenden ist, wenn die Textbotschaft hierdurch verstärkt und der Wille des Komponisten nicht verfälscht wird – also Werktreue herrscht. Unter diesem Gesichtspunkt kann man den jungen Berlinern nur zurufen: „Volltreffer!“ Ihnen gelingt eine völlige Auflösung der tradierten Raumaufteilung zwischen Bühne und großem Saal: Mobile Kameramänner schleichen durch die Reihen und übertragen Großaufnahmen der Akteure auf die Riesenbildschirme der Bühne; dabei schlüpft auch mal ein zufällig ausgewählter Zuschauer für einen kurzen Moment in die Rolle des Königs. Mit Hilfe des Blue Screens werden rollende Köpfe oder abgehackte Hände der Hauptakteure durch den Raum geschickt. Oder Mitarbeiter des technischen Bühnenpersonals entzaubern das In-die-Höhe-Abheben der Jeanne d’Arc, indem sie ihr coram publico den Sicherheitsgurt anlegen. So entsteht eine sehr eigene Stimmung, ein ebenso pausen- wie atemloses Hingucken-Müssen. Und weil das Regieteam sein Handwerk beherrscht, hat es vielleicht intuitiv nach dem Motto „Effekte ja, Hascherei nein“ agiert. Denn die belastende Thematik der auf die Schiller‘sche Vorlage zurückgehenden Oper transportiert so ihre Grundthemen wie Krieg, Folterungen, absurde Gerichtsszenen und schließlich die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen ungemein dicht und eindrucksvoll. Das bleibt haften!
Im Übrigen wird sich dieses in der Premiere vorgestellte Konzept diametral von jener Inszenierung der „Jungfrau von Orléans“ aus Tschaikowskys Feder unterschieden haben, die im Jahr 1967 in Saarbrücken als deutsche Erstaufführung über die Bühne ging. Wohl aus übergeordneten politischen Gründen wird heute russisch gesungen, in einigen Passagen gar ukrainisch, so dass sich der Blick des Publikums vielfach auf die deutschen und französischen Obertitel richten musste. Die Wahl der Sprache ist aber auch Teil des Regiekonzepts, denn die 1412 im lothringischen Domrémy geborene Jeanne d’Arc macht auf der Bühne eine virtuelle Zeitreise durch, die sie bis hin in den aktuellen Abwehrkampf der Ukraine gegen die russische Invasion führt. Im wirklichen Leben soll Johanna ebenfalls Sieges-Visionen gehabt haben und zieht daher siegreich mit in den Krieg gegen die Engländer, die Ansprüche auf den französischen Thron erheben. In Reims ist sie dann Zeugin der Königssalbung von Karl VII.; später wird sie gefangen genommen, an die siegreichen Engländer ausgeliefert und im Jahr 1431 als 19-Jährige auf dem Scheiterhaufen in Rouen verbrannt.
Vielleicht angestachelt durch das ungewöhnlich intensive Regiekonzept liefen auch die musikalischen Akteure zur Hochform auf. Aus dem Orchestergraben schickte Dirigent Stefan Neubert einen ungemein weichen Klangteppich auf die Bühne, Chapeau! Die weiblichen Hauptrollen Carmen Seibel (Jeanne d’Arc) und Valda Wilson (Agnès, Maitresse des Königs) sangen und agierten selbstbewusst und leidend, ohne in Starallüren zu verfallen. Und ihre männlichen Pendants wie Algirdas Drevinskas (Karl VII.), Peter Schöne (Dunois), Max Dollinger (Lionel), Hiroshi Matsui (Vater der Jeanne), Oleksandr Vozniuk (Raimond) sowie Markus Bausch (Erzbischof) standen dem nicht nach – im Gegenteil, alle ließen spüren, dass hier in einer aktuellen Kriegs- und Krisenzeit ein Kunstwerk mahnt: „Schafft endlich alle Kriege ab!“ So gesehen hatte der Abend doch zwei „Starensembles“: zum einen die Chöre, welche mit einer unglaublichen Klangpracht aus der eher trockenen Tiefe des Bühnenraums mit ihrem nie forcierten Gesang manche Gänsehaut zu erzeugen wussten – gerade auch in filigranen Momenten im a-cappella-Format. Und dann die Bühne selber: warmes Licht, angemessene, wunderbar spätmittelalterliche Kostüme sowie ein Bühnenbild, das nicht abschrecken, sondern passen, deuten und bei aller schrecklichen Thematik anheimeln will. Großartig – ein ungewöhnlicher Opernabend, bei dem nahezu alles stimmt. Vielleicht wird man über diese Inszenierung noch lange reden. Und wer mit bunten Farbspielen, Bildüberlagerungen und Kameraschwenks hadert, sollte sich zum Trost und fiktiv den Komponisten Tschaikowsky als Zuschauer in das Große Haus des Staatstheaters gebeamt vorstellen: Vielleicht hätte er helle Freude an diesem bunten Treiben von Effekten und Bildüberflutungen gehabt? Zumal seine Musik hochkarätig dargeboten wurde? Nemo potest scire: niemand kann es wissen.
Thomas Krämer