Szenenbild aus der Oper Ophelia © Saarländisches Staatstheater, Foto Kaufhold
Eine fesselnde und fordernde Uraufführung
Sarah Nemtsows „Ophelia“
von Kurt Bohr
Das Saarländische Staatstheater und sein Intendant Bodo Busse verdienen großes Lob für das Wagnis, eine zeitgenössische Oper in Auftrag zu geben und auf die Bühne zu bringen. Für die Aufführungspraxis eines auf die Herausforderung unserer Zeit eingehenden Theaters sind solche Stücke unverzichtbar. Mit Sarah Nemtsov (1980 in Oldenburg geboren) wurde eine Künstlerin verpflichtet, die schon als Komponistin mehrerer zeitgenössischen Opern erfolgreich in Erscheinung getreten ist, etwa 2006 mit der Kammeroper „Herzland“ auf der Basis von Briefwechseln von Paul Celan oder der abendfüllenden Oper „L‘Absence“, die 2012 bei der Münchner 13. Biennale uraufgeführt wurde. 2017 kam ihre Oper „Sacrifice“ in Halle heraus. Für „Ophelia“, 2019 in Auftrag gegeben, war Beharrungsvermögen angesagt, da diese Komposition erst nach Ende der Pandemie einstudiert und aufgeführt werden konnte. Es hat sich gelohnt, denn so kam ein grandioses, hoch differenziertes modernes Musiktheater auf die Saarbrücker Bühne.
Die Oper basiert zwar auf dem Hamlet-Stoff von William Shakespeare, Ophelia wird aber in dem neuen Werk aus ihrer dortigen, fremdbestimmten und nicht ernst genommenen Rolle, in der sie romantisiert und als Objekt der Begierde erotisiert wird, radikal emanzipiert. Ein Glücksfall war, dass Nemtsov den Dichter und Übersetzer Mirko Bonné gewinnen konnte, der die neue Geschichte von Ophelia in eindrucksvoller und pointierter Sprache zu erzählen weiß, und auch, wie Nemtsov betont, Raum lässt für den von ihr geschaffenen Klang.
In einer Art Zwischenwelt, die, so die Musikdramaturgin Anna-Maria Jurisch, an Dante Alighieris „Purgatatorium“ erinnert, ist Ophelia 1 auf der Saarbrücker Bühne auf sich gestellt und findet den Raum für ihre emanzipatorische Entwicklung. Das Stück beginnt am Ende von Shakespeares Drama, wenn alle schon tot sind. Nach dem Libretto gibt es drei Überlebende Ophelia 1, Horatio und Fortingbras. Zur Totenwelt gehören Hamlet, seine Mutter Gertrude, König Claudius, Polonius, Laertes, Rosenstern, drei weitere Ophelias und der graue König, Hamlets Vater. Die im Stück geschaffene Zwischenwelt wird durch zwei Bühnenebenen präsentiert. Auf der oberen Fläche findet sich die Welt der Toten, Gestalten in langen, geschlossenen schwarzen Gewändern, die in der Wahrnehmung der Lebenden, die auf der unteren Bühne agieren, irgendwie noch existieren und zu denen sie Kontakt zu haben scheinen. Umgeben von diesen Geisterbildern von Menschen, die ihr nach dem Stück von Shakespeare vertraut sind, wird sie sich während des Stücks nach und nach von dem Schicksal, Spielball anderer zu sein, befreien.
In zwölf Bildern wird die Handlung umgesetzt. Das Totenensemble versammelt sich zu Beginn um die im Bett träumende Ophelia I, erlebt noch einmal die aus dem Shakespear’schen Stück bekannten Gräueltaten, die man sich wechselseitig vorwirft und die Ophelia 1 nicht loslassen. Sie wiederum sucht nach ihrer eigenen Geschichte und erinnert sich an die Leichtigkeit ihrer Kindheit und Jugend. Horatio wacht schützend am Bett von Ophelia 1, während die drei anderen Wiedergängerinnen der ersten Ophelia ihr in der Welt zwischen Leben und Sterben zur Seite stehen und sie gegen die Vorwürfe der anderen Verstorbenen verteidigen. Im sechsten Bild treffen Hamlet und Ophelia aufeinander, ohne miteinander zu reden, während der Schattenchor der Toten versucht, Ophelia ins Schattenreich zu locken. Vergeblich versucht Gertrude auf der Suche nach Amüsement aus dem Schattenreich auszubrechen.
In der Sphäre der lebenden trifft Horatio erneut Ophelia und merkt, dass sie sich von Erinnerungen und Geistererscheinungen zu lösen beginnt. Gemeinsam schaffen Sie es, sich von der Vergangenheit in der Schattenwelt zu lösen, während der neue junge König Fortingbras das Ende der Macht des Todes und des Schattenreiches verkündet.
Für die insgesamt überzeugende Inszenierung zeichnet Eva Maria Höckmayr verantwortlich, während Fabian Liszt das beklemmend eindrucksvolle Bühnenbild samt Videos geschaffen hat. Die fantasievollen genregerechten Kostüme stammen von Julia Rösler, das einfühlsam und präzise gestaltete Lichtdesign von Karl Wiedemann. Das Orchester unter perfekter Stabführung von Stefan Neubert zeigte sich der komplexen und vielschichtigen Partitur von Sara Nemtsov in allen Belangen bestens gewachsen und stellte wieder einmal die vielseitige Professionalität dieses Klangkörpers unter Beweis. Die Musik von Sarah Nemtsov ist ein idealer Begleiter der Bühnenhandlung mit ihren dunklen, aber auch gräuelhaft schrillen Szenen. Der Komponistin ist ein großer, musikalischer Wurf gelungen. Mit ihrer zeitgenössischen, atonalen, nicht melodiösen Komposition untermalt, verstärkt und akzentuiert sie das Geschehen auf der Bühne überzeugend. Das komplexe Sound Design von Matthias Erb fügt sich optimal in die Musikdarbietung ein.
Einzuräumen ist, dass die Musik bisweilen laut, ja auch schrill wirkt und hohe Anforderungen an das Hörverständnis des Publikums stellt, das sich weit überwiegend aufgeschlossen zeigte für die Moderne, wenn auch einige BesucherInnnen, wie in solchen Fällen nicht unüblich, die Vorstellung vorzeitig verließen.
Als SolistInnen brillierten auf hohem Niveau, ohne dass die Leistungen der weiteren ProtagonistInnen geschmälert werden sollen, allen voran Valda Wilson als erste Ophelia, als Gertrude (Gemahlin des Claudius) die großartige Liudmilla Lokaichuk sowie mit souveränen Auftritten Hiroshi Matsui als König Claudius und Markus Jaursch als Polonius. Auf dem gleichen Niveau agierten die drei weiteren Ophelias (Bettina Maria Bauer, Pauliina Linnosaari und Judith Braun) sowie Alois Neu als der graue König, Hamlet von Dänemark.
Eine insgesamt sehr stimmige Vorstellung, die allerdings auch etwas kürzer hätte ausfallen können. Freundlicher, langanhaltender Beifall des Publikums.