True Copy © Koen Broos
In dieser Saison blieb das Festival Perspektives glücklicherweise von der Geißel der Pandemie verschont. Das vielfältige und abwechslungsreiche Programm lockt das Publikum in Scharen in die Spielstätten. Im Vorfeld der offiziellen Eröffnung des Festivals waren bereits im Mai mit dem Audio Walk von Rimini Protokoll, dem Tanzstück von Kolja Huneck im Pinguissonbau und in Metz den Conversations von Bérengère Janelle mit der Compagnie La Ricotta sowie 20 danseurs pour le XXe siècle et plus encore von Boris Charmatz einige Highlights zu erleben.
Die grandiose Eröffnung am 2. Juni ging im E-Werk in Saarbrücken Burbach in Anwesenheit zahlreicher Prominenz aus Politik und Gesellschaft über die Bühne. OB Uwe Conradt, Kulturministerin Christine Streichert-Clivot, der Vertreter der Région Grand Est, Schuh, der französische Generalkonsul Sébastien Girard und die Vorsitzende der deutsch-französischen Kulturstiftung, Doris Pack, hielten euphorische Grußworte. Das E-Werk war rappelvoll. Die Sehnsucht des Publikums nach Begegnung und sozialem Kontakt fand sehr lebhaften Ausdruck. Möbius, diese hoch poetische Mischung aus Tanz und Akrobatik, erwies sich als absolutes Spitzenstück. Inspiriert von Zugvögelscharen präsentierte die von Rachid Ouramdane geleitete Compagnie XY virtuose Endlosschleifen, die an das legendäre Möbius-Band erinnerten. Mitten im Laufen wurden überaus grazile Sprünge und Salti gezeigt, aber auch geradezu turmhohe Akrobatik-Kombinationen, die das Publikum zu schieren Begeisterungsstürmen hinrissen.
Das nächste Highlight war die Brieffreundschaft, eine Art Dokumentarstück zu einem in unserer Gesellschaft weitgehend verdrängten Problem: der lebenslangen Haft bei Gewaltkriminalität. Was empfinden Menschen, die häufig in psyschotischem Affekt oder blindem Hass andere Menschen brutal ermordet haben, wenn sie wieder zu sich kommen und vielleicht den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen müssen? Können wir uns klar machen, welchen seelischen Nöten und Depravationen sie ausgesetzt sind? Das Theaterkollektiv Markus & Markus macht einen Briefwechsel mit vier lebenslänglichen weiblichen Häftlingen zum Gegenstand einer bewegenden Analyse und bietet mit einer nachgestellten Mordprozedur – quasi als Vögel verkleidet – packenden Anschauungsunterricht zur Täter-Opfer-Beziehung. Auch hier starker Beifall in der Alten Feuerwache.
Am gleichen Ort dann Work, so etwas wie eine Macho-Performance, bei der vier Akteure Holz und einer Holzwand hämmernd und sägend zu Leibe rücken. Der erste, mit einem Pferdekopf verkleidet, hämmert enervierende ca. 30 Minuten lang übergroße Nägel in eine auf zwei Holzböcken ruhende dicke Holzplatte hinein. Dann setzt er sich auf die Platte und sägt sie in der Mitte durch. Während er noch sägt, beginnt ein zweiter Akteur an der dahinter stehenden Holzwand ein größeres Stück auszusägen, steigt dann durch die Wand nach vorn und sägt weitere Stücke aus. Ein dritter Akteur umfasst das ausgesägte Stück von hinten, hält es wie einen Brustpanzer vor sich und wartet mit slapstickhaften Bewegungen auf. Unterdessen tropfen in größeren Mengen unterschiedliche Farben von der Decke, die von allen vier Akteuren mit Schippen an die Holzwand geschleudert werden, um abschließend zu einem einheitlichen grauen Farbton auf der Wand verrieben zu werden. Eine regelrechte Orgie, jedoch immer mit spielerischen Elementen aufgelockert. Wieder viel Beifall, aber auch ratlose Gesichter.
Ein weiterer Höhepunkt spielerisch akrobatischer Eleganz war dann wiederum, ebenfalls in der Alten Feuerwache, die Performance Through the Grapevine. Zwei akrobatisch höchst artifizielle Künstler lassen in schier endlosen Verquickungen, Spannungen und Auflösungen ihre Körper miteinander dialogisieren. Es ist absolut faszinierend, wie elegant sie ihre Gliedmaßen miteinander verrenken in schier endlosen Bewegungszusammenhängen. Sie können einfach nicht voneinander lassen. Diese Leistung verdient absolute Hochachtung. Verdienter lang anhaltender stürmischer Beifall.
Dann True Copy, Dokumentar-Theater von höchster Qualität. Angeregt von zahlreichen Kunstfälschungsskandalen wird hier vor einer Wand eng aneinander gepresster Gemälde und Zeichnungen ein spannendes Interview nachgespielt. Was das Publikum an der Wand sieht sind allesamt Beispiele von Fälschungen Geert Jan Janssens, einem der größten Kunstfälscher aller Zeiten. Es grenzt an absurden Humor, wie spielerisch leicht es dem begabten Selfmade-Künstler gelungen ist, die Auktionshäuser und Sammler zu täuschen. Er erzählt, wie verblüfft er war, als er ein gefälschtes Gemälde an dessen vorgeblichem Schöpfer, den niederländischen modernen Künstler Karl Appel schickte und wie dieser die Echtheit des Bildes prompt bestätigte. Im Interview erzählt der Protagonist des Betrügers, wie seine zahlreichen Fälschungen bei Auktionen Höchstpreise erzielten. Er lässt auch durchblicken, dass sie Auktionshäuser nur allzu gerne um des schnöden Mammons willen diesen „Zirkus“ mitspielten. Dramaturgisch gewitzt, mischte das Kollektiv Berlin reale Bilder mit gefilmten, indem einzelne Bilder in der Wand als elektronische Bildschirme genutzt wurden. Ein höchst unterhaltsamer vergnüglicher Abend im E-Werk.
Das Festival wartete darüber hinaus mit einer ganzen Reihe akrobatischer Zirkusaufführungen, mit Tanz und Performances, aber auch Rock/ Pop-und Chansonkonzerten auf, die beim dem gut Publikum auf positive Resonanz stießen. Die Auslastung in den Sälen lag bei erstaunlichen 85 %, von den verfügbaren Eintrittskarten (8773) wurden 7.449 verkauft. Für Konzerte und Clubkonzert konnten 5.364 Tickets veräußert werden und zu den Veranstaltungen im Freien kamen 1.205 Interessierte. Zu den 11 Events im Vorfeld der offiziellen Eröffnung des Festivals kamen 3.167 BesucherInnen.
Insgesamt war es ein erfolgreiches Festival, das Sylvie Hamard mit ihrem sehr engagierten Team in Szene setzte. Ein wenig mehr Mut zu Theater in französischer Sprache bleibt zu wünschen. Nach der Frankreich-Konzeption der Landesregierung sollen wir doch in absehbarer Zeit alle Französisch sprechen und verstehen können!
Kurt Bohr