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Das Ende von WR = Whishful Reality und der Anfang von PR = Putins Reality
Ganz gleich, wie schrecklich die Bilder und die Schreckensmeldungen vom Krieg in und um die Ukraine sein mögen, sie werden uns noch lange beschäftigen. Hoffentlich, so könnte man es zynisch interpretieren, denn das würde zunächst einmal bedeuten, dass der Krieg weiter andauert, die Ukraine sich also weiter erfolgreich gegen die immer massiver werdenden Angriffe der russischen und inzwischen auch der belarussischen Streitkräfte zur Wehr setzen konnte. Hoffentlich nicht mit aktuellen Bildern, so möchte man angesichts des Sterbens von Soldaten und Zivilisten und der Zerstörungen von Häusern und Einrichtungen dringend wünschen.
In jedem Fall wissen wir es jetzt ganz sicher: Krieg mitten in Europa ist möglich, und die europäischen Länder, allen voran Deutschland, waren nicht darauf vorbereitet. Erklärt wurde dies von Vizekanzler Habeck mit angeblicher „Naivität“, die kollektiv zuvor alle Regierenden erfasst habe. Unsere Aussenministerin Baerbock macht dafür geltend, dass der russische Präsident uns „eiskalt belogen“ hätte. Angesichts dieser Tatsache und des „infamen Völkerechtsbruches“, die eine Zeitenwende markiere, sei eine grundlegende Neubewertung der Politik gegenüber Putins Russland zwingend und eine „realitätsbasierte“ Politik geboten, so Kanzler Scholz in seiner bemerkenswerten Sonntags-Rede am 27. Februar vor den versammelten Abgeordneten im Reichstag sowie Alt-Bundespräsident Gauck und dem stürmisch begrüssten Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk.
Im Kern geht es aber dabei um die Frage, ob wir an dieser Entwicklung Mitschuld haben, weil wir, so die eine Variante, die legitimen Bedürfnisse Russlands lange Zeit einfach ignoriert hätten, oder, so die andere Lesart, weil Russland unter Putin einen Weg eingeschlagen hat, der Gewalt, Verstellung, Lüge und Provokationen sowie systematische Abhängigkeiten als selbstverständliche Mittel des internationalen Umgangs einer nuklearen Grossmacht planvoll eingesetzt hat und weiter verfolgt. Fein raus wären wir nur dann, wenn wir uns die Analyse zu eigen machten, nach der Putin einfach „verrückt“ geworden wäre, also bar jeder Rationalität handelte. In der Tat haben die nun auch bei uns öfters übertragenen Fernsehauftritte Befremden ausgelöst bzw. verstärkt. Das lag und liegt nicht zuletzt an den bar jeden Bemühens um Seriosität gewählten Verbalentgleisungen, mit denen Putin die Repräsentanten der Ukraine überzieht, es sind auch die für uns geradezu grotesk anmutenden Machtinszenierungen, mit denen er seine eigenen Gefolgsleute geradezu lustvoll und mit voller Absicht in den Senkel stellt. Bestimmt unfreiwillig unterstreicht dabei seine Körpersprache, nämlich das Herumlümmeln in den vergoldeten Sesseln, den
unüberbrückbaren Kontrast zwischen dem höfischen Ambiente der Säle und der Haltung seines Besatzers.
Aber reicht dieses bemerkenswert andere, in Russland aber wohl durchaus gewohnte Verhalten, aus, um als Beweis für Irrationalität herzuhalten? Oder ließe sich nicht vielmehr aus der kaum erkennbaren Reaktion des Westens auf zahlreiche drastische Verletzungen des Völkerrechtes in der jüngsten Vergangenheit eine gewisse vorsätzliche Haltung des Desinteresses ableitbar? Könnte man damit nicht die Naivität von Putin gefördert haben, dass eine Besetzung der Ukraine, mit welchen Begründungen auch immer, nach einer gewissen Zeit des Protestes durchgehen würde? Denn welche Reaktionen hatte es in den USA und in den anderen Mitgliedern des Westens ausgelöst, als Russlands Bruder im Geiste Assad die von Obama gezogene Rote Linie einfach überschritt, und seine opponierenden Landsleute mit Giftgas massakrierte? Welche Massnahmen wurden ergriffen, als die russischen Flugzeuge Aleppo und andere syrische Rebellenstädte mit Fassbomben auch auf
Krankenhäuser ruinierte? Oder welche Folgerungen haben wir aus dem militärischen Eingriff bzw. Übergriff Russlands in Georgien gezogen, der zur Folge hatte, dass dort ein Teil des Landes als neuer Staat abgezwackt wurde? Dasselbe Vorgehen wie im Fall der abgespaltenen Gebiete Donbass und Krim. „Nation-Building“ a´ la Putin! Diese Beispiele könnten ein Hinweis dafür sein, dass die Haltung Putins keineswegs „plötzlich passiert“ da war, wie Annalena Baerbock suggerierte, sondern sich durchaus nachvollziehbar entwickelt haben könnte.
Was würde es bedeuten, wenn man annehmen müsste, dass Putins Politik einem, wie sein Bewunderer Trump einschätzt, „genialen“ Schachzug, der kunstvoll praktizierten „Maskirovska“, also der gelungenen Täuschung, und nicht dem verqueren Hirn eines Verrückten entspringt? Wir müssten uns eingestehen, ihm auf den Leim gegangen zu sein. Und daran kleben wir fest, ob wir uns wenden oder winden. Aber vielleicht haben wir ja noch diese Chance, „alles auf den Tisch“ zu legen, wie es neuerdings heisst, wenn bis dato unliebsame Entscheidungen vorbereitet werden sollen. In unserem eigenen Interesse, aber auch alle derer, die jetzt gezwungen sind, mit ihrem Leben für unsere Werte einzustehen.
Jürgen Pitzer