Der Shibuya-Bezirk in Tokio könnte glatt aus „Blade Runner“ stammen. Japan gilt als Land des Cyberpunk. © Andre Benz, unsplash.com
Der Begriff „Cyberpunk” war zuletzt im Dezember 2020 in aller Munde, als das Videospiel „Cyberpunk 2077“ weltweit negative Schlagzeilen machte. Das Spiel vom polnischen Studio CD Projekt RED (das unter anderem auch Hits wie „The Witcher“ entwickelte) wurde nur eine Woche nach der Veröffentlichung für diverse Konsolen wie PlayStation 4 und Xbox aufgrund gravierender Fehler im Game-Design eingestampft. Seit seiner Ankündigung im Jahr 2012 wurde das Open-World-Spiel von Kritikern und Fans sehnsüchtig erwartet und über die Maßen gehypt. „Cyberpunk 2077“ spielt im dystopischen Night City, einer Metropole in Kalifornien, die von Konzernen kontrolliert wird. Alltägliche Abläufe in der Stadt wie Abfallbeseitigung und der öffentliche Nachverkehr sind abhängig von Robotern. Geprägt von Obdachlosigkeit und Gewalt, zeichnet das Spiel ein düsteres Bild vom Leben mit künstlicher Intelligenz. Damit präsentiert das Spiel ein für das Genre des Cyberpunk typisches Setting, das so oder so ähnlich in diversen Mangas, Animes, Romanen, Videospielen und Verfilmungen zu finden ist.
Cyberpunk ist ein Subgenre der Science Fiction, das vor allem von der Darstellung der Beziehungen von menschlicher Subjektivität und künstlicher Intelligenz lebt. Durch das Thematisieren einer dystopischen Zukunft, in welcher Androide (humanoide Roboter) oder Cyborgs (Mischwesen aus Mensch und Maschine) mit Menschen koexistieren, bietet Cyberpunk ein Präsentationsfeld für die menschliche Furcht vor der Maschine. Obwohl die Anfänge des Cyberpunk in der Literatur der 1960er Jahre liegen, fand das Genre in der visuellen Umsetzung größeren Anklang. Die Blütezeit des Cyberpunk lässt sich in den 1980er Jahren verorten, inspiriert von der Paranoia des Kalten Krieges und der Ausbreitung moderner Technologien wie VHS und Heimcomputern. Aus dieser Zeit stammen die filmischen Meisterwerke des Genres (die zum Teil Adaptionen der literarischen Vorlagen sind) wie „Blade Runner“ (1984), „Terminator“ (1984) oder „Total Recall“ (1990).
Neben diesen Hollywood-Produktionen ist noch „Ghost in the Shell“ als eine der einflussreichsten Franchises aus Japan zu nennen: basierend auf dem Manga von Masamune Shirow aus dem Jahr 1989 sind im Laufe der Jahre mehrere Anime-Adaptionen, Videospiele, Fernsehserien und eine Hollywood-Verfilmung (2017), mit Scarlett Johannson in der Hauptrolle, entstanden. „Ghost in the Shell“ spielt in der Zukunft des Jahres 2029, in der viele Menschen Cyborgs sind – entweder sind die menschlichen Körper teilweise oder gänzlich durch künstliche Implantate ersetzt worden. Der künstliche Körper ist die „shell“, also die Hülle, und das einzig menschliche in diesen Cyborgs ist das Gehirn (ghost), das von der Hülle geschützt wird. Bedrohlich wird es, als ein Hacker auftaucht, der offenbar über eine unbekannte Software die Gehirne von Cyborgs manipulieren kann, und es zu mehreren Mordfällen und Gewalttaten kommt. Die Protagonistin Major Motoko Kusanagi ermittelt zusammen mit ihrer Spezialeinheit für Cybersicherheit gegen den Hacker. „Ghost in the Shell“ inspirierte unter anderem die Wachowskis zu ihrer „Matrix“-Trilogie, die das Genre des Cyberpunk zur Jahrtausendwende in der Mainstream-Popkultur salonfähig machte.
Vor allem in den vergangenen fünf Jahren erlebte Cyberpunk ein Revival, das sowohl mit dem andauernden Ästhetik-Trend der 1980er einhergeht als auch mit der Verhandlung posthumaner Identitäten im digitalsten aller Zeitalter. Wie Francesca Ferrando (2019) feststellt, ist der Posthumanismus die Philosophie unserer Zeit – einer Zeit, in der Klimawandel, Pandemie und Technologie uns wie nie zuvor die Zerstörungswut unserer Spezies und die Unzulänglichkeit des menschlichen Körpers vor Augen führen. Die Umsetzung der posthumanen Szenarien aus den Cyberpunk-Filmen der 1980er scheint heute gleichzeitig näher und unrealistischer als je zuvor: womöglich kommt uns die Klima-Apokalypse zuvor und vernichtet alles Leben, bevor die Menschen ihre Cyborg-Träume umsetzen können.
Eine häufig wiederkehrende Thematik des Cyberpunk bestärkt, in Verbindung mit dem posthumanen Anreiz des Genres, dessen aktuelle Beliebtheit: Wo die Androiden oder Cyborgs zunächst als bedrohlich und unmenschlich dargestellt werden, offenbart sich oftmals nach einiger Zeit, dass die künstlichen Lebewesen Emotionen und Selbstbestimmung entwickeln – so auch in dem Videospiel „Detroit: Become Human“ (2018): Im Jahr 2038 ist Detroit geprägt von einer hohen Arbeitslosigkeit, verursacht durch den vermehrten Einsatz von Androiden in Haushalt und Wirtschaft. Diese spannungsgeladene Atmosphäre eskaliert, als Androide vermehrt aus ihrer Programmierung ausbrechen und emotional handeln. So ermordet ein Android einen Familienvater, als er erfährt, dass er durch ein neueres Modell ersetzt werden soll – der Android fühlt sich verraten. Deaktivierte oder zerstörte Androiden werden auf einer riesigen Müllhalde entsorgt, ein Friedhof des Grauens. Im Laufe des Spiels zeigt sich jedoch schnell, wer die wahren Monster sind. Der Mensch Zlatko quält die Abweichler (Androiden, die ausbrechen), die sich in sein Haus verirren, mit monströsen Experimenten und hält sie in Käfigen gefangen. Diese Thematik, die auch in der 2017er Adaption von „Ghost in the Shell“ durchscheint, macht deutlich, was wir schon lange vermutet haben: Die wahre Bedrohung für unsere Spezies sind nicht die Androiden oder Cyborgs, sondern die Menschen selbst.
Sandra Wagner im OPUS Kulturmagazin Nr. 85 (Mai/Juni 2021)