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Raus aus der Schmuddelecke

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Die Wiener Ausgabe soll den Skandalroman aus seiner Schmuddelecke herausführen © Foto Sandra Wagner

Seit über einem Jahrhundert wird ihr Name zugleich wissend und verschämt hinter vorgehaltener Hand getuschelt: Die „Mutzenbacher“, wie der 1906 erschienene Roman meist genannt wird, ist der wohl einzige deutschsprachige Pornoroman, „den man zur Weltliteratur rechnen muss“, wie Oswald Wiener bereits 1969 konstatierte. Der Literaturprofessor Clemens Ruthner hat nun gemeinsam mit Melanie Strasser und Matthias Schmidt eine kritische Ausgabe des Skandalromans herausgebracht – mit dem Ziel, das anonym erschienene Werk als sozialhistorisches Dokument lesbar zu machen. OPUS hat sich mit Ruthner über die „Mutzenbacher“ und ihre Relevanz in der heutigen Gesellschaft unterhalten.

Bisher gab es zwei (extreme) Lesarten von „Josefine Mutzenbacher, oder: Die Geschichte einer Wiener Dirne, von ihr selbst erzählt“ – einmal die moralische Lesart, die den Roman aufgrund des kinderpornographischen Inhalts unvermittelt auf den Index setzen will, und dann die Lesart der 68er Generation, die die Mutzenbacher als ein Manifest sexueller Anarchie feierte. Allerdings sei diese Blauäugigkeit der 68er gegenüber dem Thema Kinderpornographie wiederum ebenso problematisch wie die völlige Verbannung des Romans, wie Ruthner erklärt: „Wir haben uns für eine kritische Ausgabe entschieden, damit der Roman endlich aus seiner Schmuddelecke rauskommt und die weitere wissenschaftliche Untersuchung dieses Schlüsseltexts der Wiener Jahrhundertwende gefördert wird.“ Dies gelingt der so betitelten Wiener Ausgabe sehr gut: Abgesehen von dem ästhetisch ansprechenden Cover-Design, das auch als limitierte Vorzugsausgabe in schwarzem Samt gebunden erhältlich ist, rufen die ausführlichen Kommentare am Rande des Fließtextes die Leser*innen immer wieder zu einer distanzierten Reflexion des soeben Rezipierten auf. Die Ausgabe enthält neben dem kommentierten Originaltext inklusive markierter Druckfehler der Erstausgabe auch Oswald Wieners „Beiträge zu einer Ädöologie des Wienerischen“ (1969) und „Ein neuer Beitrag“ (1970), sowie zeitgenössisches Bildmaterial zu diversen Szenen des Romans und ein Nachwort von Ruthner selbst, in welchem er den sozialhistorischen und kulturwissenschaftlichen Hintergrund der „Mutzenbacher“ ausleuchtet.

Der gebürtige Wiener Clemens Ruthner ist Literaturprofessor am Trinity College Dublin © Foto Isabel Thomas, Dublin

Im Gespräch mit Ruthner wird klar, dass das geschilderte Leben der Wiener Dirne durchaus realistisch ist, so schockierend es auch sein mag: „Das Schutzalter lag im 19. Jahrhundert bei lediglich 14 Jahren, das heißt auf den Straßen Wiens gab es damals halbe Kinder, die ihren Sex für Geld verkauft haben. Die ‚Mutzenbacher‘ ist damit auch ein wichtiges Dokument zur Sexualgeschichte Wiens und erinnert an die dunklen Seiten der Jahrhundertwende. Dass ein bürgerlicher verheirateter Mann eine 14-jährige Sexarbeiterin mitnimmt, war damals leider normal. Es gibt in der Kunst der Jahrhundertwende immer wieder erotische bis sexuelle Fantasien, die junge Frauen und Männer inkludieren. Das sind Teile unserer Geschichte, über die wir gerne hinwegsehen.“ Der Roman thematisiere auch das unvorstellbare Elend, das hinter den hübschen Wiener Vorstadtfassaden herrschte. Arbeiterfamilien lebten hier auf extrem beengtem Raum, die Schlafstätte wurde mit sogenannten „Bettgehern“ geteilt, das Sexleben der Eltern konnte auch nicht verheimlicht werden – Privatsphäre gab es in solchen Verhältnissen nicht: „In dem Milieu konnte man gar nicht anders, als frühreif zu sein“, schätzt Ruthner.

Doch was unterscheidet die „Mutzenbacher“ von den zahlreichen weiteren Prostitutionsromanen dieser Epoche? Die Antwort ist simpel: Die „Mutzenbacher“ erzählt Prostitution als Erfolgsgeschichte. Josefines Entwicklung vom frühreifen Mädchen zur Edelhure liest sich nicht als soziale Anklage, sondern humoristisch: „Die ‚Mutzenbacher‘ bringt die Doppelmoral der Jahrhundertwende auf sehr unangenehme, aber witzige Weise auf den Punkt. Insofern nimmt sie eine Ästhetik vorweg, die Jelinek perfektioniert hat: Dass Unangenehmes durch Humor scheinbar lustig wird, aber deshalb nicht weniger unerträglich.“ Und genau darin liegt, so findet Ruthner, die blanke Provokation dieses Romans. Die „Mutzenbacher“ war schon damals transgressiv und hat bis heute ihr Affront-Niveau erfolgreich gehalten, wenn nicht sogar gesteigert. Die zentrale Frage des Romans – ab wann einem seine Sexualität gehört und wie lange man davor geschützt werden muss – ist in der heutigen Gesellschaft immer noch unbeantwortet. Wenn überhaupt, ist das Fragezeichen dahinter größer denn je. „Wir sind heute mit Pädophilie besessen. Deshalb treibt uns diese Frage immer noch um, und sie treibt Sumpfblüten.“ Die „Mutzenbacher“ hat sich zu einem hartnäckigen Bestseller entwickelt, da sie uns dazu nötigt, über solche unbeantwortbaren Fragen, Gesetze und Regeln nachzudenken – und genau darin liegt die zeitgenössische Relevanz des Skandalromans.

Sandra Aline Wagner

 

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