Auf zehn Fahrspuren breiten sich in Saarbrücken rollende und parkende PKW aus und beanspruchen das Saarufer © Marlen Dittmann
Mobilität in der Bedeutung von „sich fortbewegen“ ist unabhängig von einem bestimmten Verkehrssystem, wird aber mit dem Autofahren gleichgesetzt. Als nach dem 2. Weltkrieg der Wiederaufbau der Städte unter dem Aspekt der autogerechten Stadt erfolgte und sich immer mehr Menschen einen PKW leisten konnten, wurden alle anderen Fortbewegungsformen vernachlässigt. Das Potential der Mobilität wurde immer weniger ausgenutzt. Heute behindern parkende Autos und rücksichtslose Fahrer Fußgänger und Radfahrer. Der wenig geschätzte öffentliche Nahverkehr befördert hauptsächlich Schulkinder, alte und gebrechliche oder einkommensschwache Menschen. Die Verkehrsinfrastruktur breitet sich weiter aus und belastet mit Lärm und Abgasen Klima und Aufenthaltsqualität der Orte. So leidet die Bevölkerung unter dem motorisierten Verkehr und unterstützt seine Reduzierung. Paradoxerweise aber nimmt der Fahrzeugbestand ständig zu. Theoretisch dafür, praktisch dagegen, so stellt sich die Situation dar.
Umweltverbände sehen die Stadt der Zukunft in einer „grünen Stadt“, die mit einer nachhaltigen Mobilität und der verantwortungsbewussten Inanspruchnahme von Flächen erreicht werden soll. Die Kommunen haben die Aufgabe, die autogerechte Stadt zurückzubauen, dem Fahrrad die Vorfahrt zu geben und den ÖV als Rückgrat des Verkehrssystems zu stärken. Mit dem gleichwertigen Nebeneinander der Verkehrsmittel, die sich an den Knotenpunkten der Begegnungszonen vernetzen, ist nachhaltige Mobilität garantiert. Nur wenn Verkehr und Stadtplanung aufeinander abgestimmt sind, wird sie zum Schlüsselthema bei der Gestaltung von öffentlichen Räumen. Noch treffen hier motorisierter Individual-, öffentlicher Nah-, Waren- und Wirtschaftsverkehr und Carsharing sowie Radfahrer und Fußgänger und schließlich auch noch die parkenden PKW der Bewohner mit ihren konkurrierenden Ansprüchen aufeinander. Die Situation ist ungeordnet, denn verteilt über die ganze Stadt streiten sie sich um die Vorherrschaft.
Die meisten Gemeinden weisen Fahrradwege als schmalen Streifen am Straßenrand aus. Diese bergen mehr Gefahren, als dass sie ein Gewinn sind. Erhalten jedoch, wie bei der IBA Heidelberg, Fuß-, Rad- und öffentlicher Nahverkehr je eigene, durch breite baumbestandene Grünstreifen getrennte Fahrspuren, wird auch das Sicherheitsgefühl gestärkt. In einem Neubaugebiet lässt sich die benötigte Fläche einplanen, in einem bestehenden muss weit in die örtliche Grundstruktur eingegriffen werden. Dass dies erfolgreich möglich ist, zeigt Barcelona. Mit dem Projekt „Superilles“ (Superblöcke) wurde ein Stadtviertel für den Individualverkehr gesperrt. Jeweils zwei Baublöcke wurden zu einer Einheit zusammengefügt, um in ihrer Mitte auf den ehemaligen Parkflächen grüne Höfe und Gärten anzulegen. Statt Parkraum gewann der Stadtteil Lebensraum, mehr Aufenthaltsqualitäten, ein verbessertes Wohnumfeld und Kälteschneisen, die für ein gesundes Klima sorgen.
Radikal geht Bern mit dem Verkehr um. Die gesamte historische Altstadt ist für PKW, aber auch für Radfahrer gesperrt und kann nur mit dem öffentlichen Nahverkehr – Straßenbahnen und Busse – erreicht werden. Ihre Benutzung ist kein Ausweis der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, sondern eine Selbstverständlichkeit. An den Haltestellen, wo sich die Linien verknüpfen, findet man Stellplätze für Fahrräder, überdachte Bahnsteige, Sitzbänke, Ticketautomaten, Anzeigetafeln. Absperr- und Sicherheitsgitter fehlen, da sich alles auf der Ebene des Straßenniveaus abspielt. Umgeben von jahrhundertealter Bausubstanz, haben die Fußgänger den gesamten Straßenraum für sich und können nicht nur das historische Stadtbild ungehindert genießen. Bern und Barcelona, Städte mit touristischer Anziehungskraft, sind auch ihren Besuchern gegenüber verpflichtet, eine ungebremste Mobilität zu verhindern.
Mit dem Bau der grünen Zukunftsstadt muss heute begonnen werden. Für den Einstieg gibt es eine Reihe von überall durchführbaren Maßnahmen. Breitere Gehwege bieten Raum für ungehinderte Begegnungen, Querungshilfen erleichtern den Wechsel auf die andere Straßenseite, separate Radwege erlauben ein je eigenes Tempo, geordnete Parkstreifen ermöglichen begrünte Flächen. Diese Veränderungen stärken das Sicherheitsgefühl jedes Einzelnen, insbesondere bei einer ungewohnten Fortbewegung wie etwa auf E-Rollern und sie unterstützen das rücksichtsvolle Verhalten der Verkehrsteilnehmer. Ebenfalls in jeder Kommune können Verknüpfungspunkte ausgewiesen werden, wo sich Carsharing und öffentlicher Nahverkehr treffen, wo es Fahrradstationen gibt und E-Bikes, E-Roller oder Lastenfahrräder auf Nutzer warten. Das Projekt Kiel Regio greift weit in den ländlichen Raum ein und verbindet sowohl die teilnehmenden Landgemeinden untereinander wie auch mit der Stadt Kiel. Auch Einzelmaßnahmen verändern das Mobilitätsverhalten. In Basel ist das Parken am Straßenrand nur an wenigen Stellen gegen eine Gebühr, die höher ist als im Parkhaus, erlaubt. Dadurch verzichten viele Einwohner auf ein eigenes Auto und nutzen die städtischen Angebote. Wenn zusätzlich auf den Parkhausdächern wie im Münchner Dantebad Parkanlagen, Kindergärten oder Wohnungen errichtet werden, ist auch das ein Gewinn für alle. Mobilität hat ihren Auslöser in einem technischen Produkt, nachhaltig angewendet aber hat sie große Bedeutung für den kulturell-gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhang der Bevölkerung. Und sie sorgt für gesunde Lebensräume mit geringer Lärm- und Schadstoffbelastung und hoher Aufenthaltsqualität.
Marlen Dittmann im OPUS Kulturmagazin Nr. 87 (Sept. / Okt. 2021) zum Schwerpunkt „Mobilität: Reizthema Verkehr“