Foto: Der Renvyle Strand mit Mweelrea Mountain im Hintergrund © Sandra Wagner
Möwengeschrei. Das Rauschen der Brandung. Dann das aufgeregte Blöken von Schafen und Lämmern. Ich schaue aus dem Fenster und sehe den Farmer Eugene auf der Weide vor unserem Cottage, umringt von unseren wolligen Nachbarn. Die allmorgendliche Fütterung ist unser tierischer Wecker, aber auch den ganzen Tag hindurch bieten die Schafe besseres Entertainment als jede Fernsehshow. Eigentlich wollten wir nur ein Wochenende an der irischen Westküste verbringen, im dünnbesiedelten Connemara, wo es mehr Schafe als Menschen gibt. Aus diesem Grund war Renvyle Cottage der ideale Rückzugsort in der beginnenden Pandemie. Renvyle war jedoch noch viel mehr als das: der Traum einer jeden deutschen Touristin. Ein sturmumtobtes Cottage am Meer, im offenen Kamin ein kräftiges Torffeuer, das die Behausung ordentlich durchwärmt. Das bergige Hinterland Connemaras ist ideal für lange Wanderungen und bietet atemberaubende Aussichten auf den Atlantik und die zahlreichen Inselbröckchen vor der Küste. Saftig grüne Weiden, besiedelt mit lustig bockenden Lämmchen und gemächlichen Mutterschafen. Rosamunde Pilcher lässt grüßen. Aus dem traumhaften Wochenende wurden Wochen und dann Monate. Und wir wurden temporär zu Küstenbewohnern.
Die Sonne scheint an diesem Frühlingstag, der Himmel ist wolkenlos. Das Meer, keine fünfzig Meter von unserem Haus entfernt, ein leuchtendes Azurblau. Ich öffne das Schlafzimmerfenster einen Spalt, und eine salzige Brise strömt herein. Gute Meeresluft. Die heilende Wirkung der Seeluft, man hört es immer wieder – und verjüngend wirkt sie auch. Die Beautyindustrie macht einen Reibach mit Cremes, Fluiden und Seren mit Meereswasseranteil und Seegrasextrakten, doch diese können mit dem Effekt frischer Meeresluft nicht mithalten. Es ist gar mirakulös, doch nach drei Monaten an der Küste sah ich zehn Jahre jünger aus. Kein Witz. Lange Spaziergänge und Joggen am Strand gehörten zu unserer Routine im Lockdown. Obwohl das Meeresmurmeltier täglich grüßte, wurde der Anblick „unseres“ Strandes nie langweilig. Jeden Tag sah das Meer anders aus, mal von einer steifen Brise geriffelt, mal glatt und reflektierend, mal aufgewühlt von sturmgepeitschten Wellen unter einem dunklen Wolkenberg. Auch der Strand selbst zeigte sich stets von einer neuen Seite, mal übersät mit Treibgut und Krabbenleichen nach einem Sturm, mal trocken und weiß, mal gespickt mit Seestachelbeeren.
Die kugeligen Quallen funkeln wie Bergkristalle. Millionen kleiner Körper häuften sich in der Brandung. Am nächsten Tag waren sie verschwunden. Was da wohl noch alles an außerirdisch anmutenden Lebewesen in den Tiefen des Meeres lauert? In einem digitalisierten, allwissenden Zeitalter birgt die See ungeahnte Mysterien – genau darin liegt die Faszination dieses mäandernden Lebensraums. An diesem Tag ist der Sandstrand muschelig und aufgeheizt von der Sonne, es riecht nach trocknenden Algen, leicht fischig-salzig. Mein Blick fällt auf eine Möwe, die fröhlich auf einer sachten Welle wippt. Die Wege des Meeres sind unergründlich.
Sandra Wagner im OPUS Kulturmagazin Nr. 86 (Juli / August 2021) zum Schwerpunkt „Meer“
In der Print-Ausgabe des Magazins ist der Redaktion leider ein Fehler in der Unterüberschrift unterlaufen: Es muss „Die irische Küste von Connemara“ lauten.