Foto: Klaas Huizing © privat
Religionsgeschichtlich steht Wasser für das vorweltliche Chaos, das Tohuwabohu, dient aber andererseits zugleich als Reinigungsmittel mit unerhörter Durchschlagskraft, kann die ganze sündige Menschheit ausrotten wie in der Noah-Erzählung oder bei der Taufe durch das im Idealfall ganzkörperliche Untertauchen des Täuflings einen sündenfreien Neustart garantieren. Mich interessiert in diesem Kurzessay das Wasser als Ur-Chaos, das der Weltschöpfung vorausgeht. Ich skizziere im Folgenden eine Interpretation des Kieler Leibphänomenologen Hermann Schmitz, der am 5. 06. 2021 dreiundneunzigjährig gestorben ist. Knapp gesagt: Schmitz deutet Schöpfung als Prozess der Individuation.
Im § 37 seines zehnbändigen Systems der Philosophie unterbreitet Hermann Schmitz unter der Überschrift „Absolutes Chaos; die Vorzeit und die Erschaffung der Welt“, eine Hypothese über den Urzustand. Er geht dabei aus von der Vorstellung eines absolut chaotischen Mannigfaltigen: „Absolut chaotisch ist Mannigfaltiges, wenn unter seinen Elementen weder Identität noch Verschiedenheit, sondern statt dessen nur chaotisches Verhältnis vorliegt.“ Er fragt: „Wie können wir uns am Ehesten den Zustand der Welt denken, ehe es Leben mit Gegenwart gab, also z.B. das Archaikum, in dessen Ablagerungen die Geologen keine versteinerten Spuren von Lebewesen zu entdecken vermögen? Meine Antwort lautet: als absolutes Chaos. Jener Urzustand wäre damit so reich gewesen, wie die Geologen ihn ausmalen: Schon längst, ehe Lebewesen entstanden, wäre die Welle an das Ufer gebrandet; die Strahlen der Sonne hätten die noch jungfräuliche, unfruchtbare Erde erhellt, Gewitter ihre Blitze und Regengüsse über sie entladen. Diese Nachrichten dürften aber nur cum grano salis verstanden werden; denn diesem reichen Inhalt hätte damals noch die Form gefehlt, in der wir ihn zum Zwecke der Beschreibung auffassen: die Form der Individualität, die allein Örter und Zeitpunkte ermöglicht. Räumlich wäre die Welt damals höchstens durch ihre Weite gewesen, nicht aber durch einen Unterschied zwischen hier und dort; denn Orte, Richtungen, Lagen, Abstände setzen Individuation und damit – soweit wir aufgrund unserer Erfahrungen vermuten dürfen – Gegenwart voraus. Die Welle, die damals an das Ufer brandete, wäre also, so sehr sie auch brandete, von diesem nicht verschieden gewesen, so wenig wie mit ihm identisch.“ Wie aber geschieht der Übergang? „In dem Augenblick aber, als zuerst – vielleicht im tierischen Leib einer Amöbe – Gegenwart aufzuckte, in diesem ersten Augenblick überhaupt wäre die ungeheuerste Revolution eingetreten, die bis zum jüngsten Gericht stattfinden kann: Inhaltlich hätte sich am Stand der Dinge zwar fast nichts geändert, aber von hier ab wäre es sinnvoll, zu sagen, daß etwas dieses ist und nicht jenes, da und nicht dort, dann und nicht früher oder später, weil nun ein Zentrum der Individuation vorhanden gewesen wäre, um den Reichtum des ganzen chaotischen Weltstoffs darauf zu beziehen, so wenig auch jene arme Amöbe davon Notiz genommen hätte.“ Sicher, Schmitz spricht von einer Hypothese, gleichwohl glaubt er einen Anhalt an gegenwärtiger Erfahrung zu haben! Nachschauen kann man bekanntlich zwar nicht, aber er verweist auf eigene leibphänomenologische Erfahrung, dass nämlich „bloß durch Gegenwart die Möglichkeit von Individualität gestiftet wird“, diese Erfahrung macht aus der Hypothese eine „sehr plausible[] Hypothese, die ein sonst unbegreifliches Rätsel durchleuchtet.“ Der gewitzte Vorschlag besteht darin, Ontogenese, das Werden des Menschen, mit der Phylogenese, dem Werden der Menschheit, zu parallelisieren: „In folgerechtem Zusammenhang mit dieser Hypothese steht die Annahme, daß in der Tat erst durch das Aufzucken von Gegenwart ihre fünf Explikate – hier, jetzt, Dasein, Individualität, ich – in die Welt gebracht werden.“ Die erste Amöbe, die aufschreckt, und das erste Aufschrecken des Menschen, sind zunächst strukturverwandt, dann freilich kann sich der Mensch aus dieser primitiven Gegenwart emanzipieren – aber auch immer wieder in sie zurückfallen. Außerordentlich ist nur der absolute Anfang: „Der Ursprung der Gegenwart, sofern er sich zeitlich als erster Augenblick darstellt – ebenso wie als Ursprung des Hier, des Daseins und des (in ausdrücklichem oder unausdrücklichem, vielleicht bloß in leiblich affektiver Betroffenheit bestehendem Selbstbewußtsein gegeben) Ich -, verdient den Namen absolutes Ereignis.“ Deshalb macht es auch keinen Sinn an dieser Stelle von Gott als Person zu sprechen, denn die Bedingung der Möglichkeit für Personalität ist das absolute Ereignis, das Göttliche ist also eine Kreativität, die selbst unbestimmt ist und allererst Bestimmtheit als Besonderung oder Individualität ermöglicht.
Wie immer süffisant, ist Schmitz‘ Hinweis auf die biblischen Schöpfungserzählungen: „Die Weltschöpfung wird in den bekannten mythischen Erzählungen meistens nicht als eine Erschaffung aus nichts dargestellt – das ist eine im Judentum spät aufgetauchte und erst im christlichen Dogma zentral wichtige, dem mosaischen Schöpfungsbericht aber noch fremde Ansicht -, sondern als Hervorgang der Welt aus einem chaotischen Urzustand. Es fragt sich, worin nach den Mythen der Gegensatz der geschaffenen Welt zum Urchaos besteht. Es wird meist – wohl unter dem heimlich-gewaltigen Einfluß des platonischen Timaios – so gedeutet, daß der Schöpfer das ursprünglich verworrene, wüste Chaos (das tohuwabohu der Bibel) ordnet und schmückt.“ Ein Einwand liegt auf der Hand: Nach Schmitz liegt die Vermutung nahe, „daß Weltschöpfung nicht so sehr als Ordnung wie als Individuation gemeint ist: als Scheidung.“ Um diesen Gedanken zu verstehen, ist es wichtig, nochmals an die von Schmitz kreierte Vorstellung des ‚chaotisch Mannigfaltigen‘, das über das binäre Modell von Ordnung und Unordnung hinausgeht, zu erinnern. Dabei hilft der Hinweis auf den auch biblisch gewählten Weg, die „Verbildlichung des Chaos als Wasser“ zu wählen. Das Wasser ist, so Schmitz, „ein geradezu ideales Symbol des chaotisch Mannigfaltigen, weil es zwar in seiner Ausdehnung und zitternden oder wogenden Bewegung offensichtlich mannigfaltig und nicht überall das Selbe ist, aber nicht, außer durch Abschöpfung in feste Gefäße, in verschiedene Stücke geteilt werden kann.“ Es gibt, wie er verschmitzt sagt, „kein unordentliches Wasser“. Nach dieser Klarstellung kann Schmitz zumindest teilweise der mosaischen Erzählung etwas abgewinnen: „Wenn der Schöpfer nach dem mosaischen Bericht, sobald er das Dunkel erleuchtet hat, inmitten des Wassers eine Festung hervorruft und danach sein ganzes Ordnungswerk im so geschaffenen Rahmen ausübt, zeigt er also, daß sein Schaffen an erster Stelle ein Individuieren des chaotisch Mannigfaltigen und erst an zweiter Stelle ein Ordnen und Schmücken ist.“ Konzise zusammengefasst: „Die kosmogonischen Mythen berichten also von einem Urakt der Individuation des chaotischen Mannigfaltigen. Im Hinblick darauf darf das absolute Ereignis des Ursprungs der Gegenwart, das zuerst das absolute Chaos durchbricht und die Vorzeit abschließt, als Erschaffung der Welt gelten.“
Soweit der Vorschlag von Schmitz, mit dem ich an ihn erinnere. Mit Schmitz ist einer der prägenden Gestalten der Philosophie abgetreten. Alle großen Gazetten (u.a. Spiegel, FAZ, DLF, Focus) schrieben Nachrufe zu seinem Gedächtnis. Erst spät ist Schmitz zu großem Ruhm gekommen. Ich bin mir sicher, er wird in Zukunft zu den Klassikern der Philosophie gerechnet werden und Gestalten wie Martin Heidegger weit hinter sich lassen.
Klaas Huizing