Helen Anna Flanagan, Gestures of Collapse, 2019, video, sound, colour, 12\’00, © the artist
(red.) Das IKOB – Museum für Zeitgenössische Kunst präsentiert mit „Gesticulating… Wildly“ die erste institutionelle Einzelausstellung der in Rotterdam lebenden Künstlerin Helen Anna Flanagan. Die Ausstellung bringt erstmals Flanagans Filmtrilogie „Gestures“ (2019-2020) zusammen, in der die Künstlerin ihre kuriosen Charaktere an einem bestimmten Schauplatz auf eigentümliche Weisen kollidieren lässt. In Anlehnung an diese choreografische Herangehensweise sind ihre Filme in eine spielerische Installation in den Ausstellungsräumen des IKOB eingebettet. Das Erlebnis des Betrachters wird durch Elemente wie minimalistische Backsteinwände, Bodenmarkierungen und Skulpturen, die sich auf verschiedene Filmszenen beziehen, zugleich strukturiert und verunsichert. Flanagan stellt sich die soziologische Frage, wie und warum Menschen sich so verhalten, wie sie es tun. Dies bringt sie in ihrer Arbeit dazu, sich auszumalen wie verschiedene Personen auf die Strukturen von Gesellschaft und Macht reagieren und dazu Stellung beziehen.
„Gestures of Collapse“ (2019), die erste Videoarbeit die den Besucher:innen begegnet, spielt in einer gewöhnlichen Schulturnhalle. Vier uniformierte Schülerinnen durchqueren vorsichtig den Raum und wirken gleichermaßen nervös und gelangweilt. Die Geschichte des Films, die von einem altmodischen Fernsehmoderator erzählt wird, ist inspiriert von einer berüchtigten Anekdote aus den 90er Jahren. Eine Gruppe von belgischen Schulkindern klagte über Kopfschmerzen, Übelkeit und Herzklopfen, nachdem sie Coca-Cola getrunken hatten; der Vorfall löste eine Kettenreaktion von fast 100 solcher Berichte im Zusammenhang mit dem Verzehr des Softdrinks aus. Eine Untersuchung ergab, dass die Beschwerden wahrscheinlich das Ergebnis einer „soziogenen Massenerkrankung“ waren: das weit verbreitete Auftreten von Symptomen ohne erkennbare Ursache, die von einer Person zur anderen weitergegeben werden. „Gestures of Collapse“ beschreibt, wie soziale Kräfte genauso mächtig sein können wie biologische, und dass es oft schwierig sein kann, das eine von dem anderen zu unterscheiden.
Flanagans rotierende „kinetische Kebab“ Skulpturen, die Assoziationen zwischen der DNA-Helix und Dönerfleisch hervorrufen, stellen den Übergang zum zweiten Film der Ausstellung, „Gestures of Matter“ (2020) her. In Anlehnung an das Sprichwort „Du bist, was du isst“, konfrontiert der Film uns mit Körperfunktionen, die wir oft vergeblich zu kontrollieren versuchen. In einem Imbiss Restaurant setzt sich eine exzentrische Gruppe von Menschen mit Gefühlen von Hunger, Gier und Ekel auseinander, und bildet eine groteske Darstellung von Konsum und dessen Konsequenzen. Flanagans Kamera konzentriert sich auf das Abstoßende: eine von Fliegen befallene Suppe, ein Kunde, der schmatzt und sich die Lippen leckt, Essstäbchen, die Gesichtshaut greifen und daran ziehen, ein Mann mit Verdauungsstörungen, oder eine frustrierte Kellnerin, die eine Maske trägt, die dem hässlichen Blobfisch ähnelt. „Gestures of Matter“ macht deutlich, dass Essen zwar der ultimative Gleichmacher ist – wir alle müssen unsere Nahrung aufnehmen, verdauen und ausscheiden – aber es ist auch das, was uns auseinanderreißt, nicht nur voneinander, sondern auch in uns selbst.
Der dritte und letzte Film der Trilogie, „Gestures of Anatomy“ (2019), setzt sich mit der Idee des „sozialen Gewebes“ vor dem passenden Hintergrund eines Waschsalons auseinander. Der Waschsalon ist ein privates Gewerbe, das in vielen europäischen Städten als öffentlicher Raum herhält. In Flanagans Film ist es ein Ort, an dem Menschen der schmutzigen Wäsche von anderen ausgesetzt sind, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenden Sinne. Die Charaktere sinnieren über ihre Vorstellungen von Verschmutzung und Reinheit, während sie in die hypnotischen Rotationen der Waschmaschinen starren. Zyklen und Wiederholungen spielen in diesem Film die Hauptrolle: Menstruation, Zigarettendrehen, Mondphasen, körperliche Exkrete, Hygienerituale. Flanagans Arbeit zeigt, wie wir in ständigem Austausch mit unserer Umgebung stehen, und egal wie sehr wir versuchen mögen, autonom zu bleiben; Kontamination ist unvermeidlich.
Wie die Stubenfliegen, die sich als wiederkehrendes Motiv durch ihre Videos streuen, binden Flanagans Arbeiten den Betrachter abwechselnd als passiven Beobachter, Informationsträger oder invasiven Parasiten ein. Damit steht sie im Einklang mit dem Jahresthema des IKOB für 2021, „Gossip“. Das Programm für 2021 setzt sich mit dem Potenzial von Erzählkunst und geteilten Geschichten auseinander, uns als Gesellschaft enger aneinander zu binden, und zielt auf eine kritische Untersuchung der sozialen Kontexte ab, in denen erzählungsauslösende Narrative entstehen und verbreitet werden. Helen Anna Flanagans „Gestures“ Trilogie ist eine wichtige Inspirationsquelle für dieses Konzept, da ihre Arbeit uns Zugang zu Orten der Begegnung zwischen verschiedenen Ideen und Menschen gewährt, wobei Gerüchte und Geschichten als ansteckendes Geflüster durch ihre Werke gewebt sind.
„Gesticulating… Wildly“ findet im Anschluss an den Feministischen Kunstpreis des IKOB von 2019 statt, bei dem die Jury bestehend aus Daniella Géo (ehemals HISK, Gent), Louise Osieka (CIAP, Hasselt), Marie-Hélène Joiret (Chataigneraie, Flemalle) und Eva Wittocx (Museum M, Leuven) Helen Anna Flanagan für den ersten Preis auswählte, was zur Einladung für eine Einzelausstellung im IKOB führte. Der 1993 zur Förderung aufstrebender Künstler:innen gegründete IKOB Kunstpreis wurde 2019 erstmals zum „Feministischen Kunstpreis“ und zielte auf Künstler:innen ab, deren Arbeit zur Verbreitung feministischer Ideen einen wichtigen Beitrag leisten. Die nächste Ausgabe des IKOB Feministischen Kunstpreises findet 2022 statt.
Die Ausstellung findet statt vom 11.05.–15.08.2021.
22/04/2021