Shaftesbury Memorial Fountain in London, Piccadilly Circus von Anthony Ashley-Cooper, 7th Earl of Shaftesbury
Pünktlich zum Valentinstag möchten wir einen Rückblick in das OPUS Kulturmagazin Nr. 24 werfen (erschienen im März / April 2011), in dem das Schwerpunktthema „Liebe“ unter anderem diesen Beitrag von Prof. Dr. Dr. Klaas Huizing hervorbrachte:
„Mein Vater, müssen Sie wissen, war ursprünglich ein Kaufmann, der nach der Levante fuhr, hatte sein Geschäft aber schon vor einigen Jahren aufgegeben, und sich auf sein väterliches Erbgut in der Grafschaft zurückgezogen, um dort den Abend seines Lebens zu verbringen. Dieser mein Vater war, glaube ich, der regelmäßigste Mann von der Welt in allem was er tat, mochten es nun Geschäftssachen oder Vergnügungen sein. Als ein kleines Beispiel von dieser außerordentlichen Pünktlichkeit, deren Sklave er in Wahrheit war, will ich nun anführen, daß er sich seit Jahren zur Regel gemacht hatte, am ersten Sonntagabend jedes Monats jahraus, jahrein so sicher als der Sonntagabend kam, eigenhändig eine große Hausuhr aufzuziehen, die oben auf der Hintertreppe stand; und da er zu der Zeit, von der ich rede, so zwischen 50 und 60 Jahre zählen mochte, so hatte er es allmählich so eingerichtet, auch gewisse andere kleine Familiengeschäfte an dem gleichen Abend abzumachen, um sie, wie er oft zu meinem Onkel
Toby sagte, alle auf einmal vom Hals zu kriegen, und im übrigen Monat nicht weiter damit behelligt und geplagt zu werden.“
Und die deutlich jüngere und offenbar unterversorgte Gattin muss ihn sogar an jenem berüchtigten Sonntag, an dem Tristram Shandy gezeugt wurde, daran erinnern: „Höre, Alter, sagte meine Mutter, hast du nicht vergessen die Uhr aufzuziehen?“ Laurence Sterne, der Erfinder und frühe Vollender des modernen Romans in einer Person, trug hier einen ironischen Abgesang auf das eheliche Liebesleben vor. Vierzig Jahre sollte es dauern, bis der Feuerkopf Friedrich Schlegel in seinem Skandalroman Lucinde (1799) wilde Leidenschaft und bürgerliche Harmonie zusammenband. Dabei kam kein egoisme à deux heraus, sondern, dem romantischen Universalitätsprinzip entsprechend, liebt jeder durch den Anderen die ganze Welt. Der häufig zitierte Satz lautet: „Alles, was wir sonst liebten, lieben wir nur noch wärmer. Der Sinn für die Welt ist uns erst recht aufgegangen.“ Vor allem der vorgeschlagene Rollentausch im Geschlechtsakt wurde von der Lesergemeinde als Affront aufgefasst. (So neu war der Gedanke übrigens nicht. Die jüdische Haggada-Tradition erzählt von Lilith, Adams erster Frau im Paradies, die mit Adam über die Beischlafstellung in Streit geriet und deshalb freiwillig das Paradies verließ. Die Missionarsstellung war bereits im Paradies bei den Frauen aus der Mode.)
Skandalös war der Roman, weil das Berliner Publikum die Hintergründe des Romans bestens kannte: Schlegel hatte sich in die Mendelssohntochter Dorothea verliebt, die mit dem jüdischen Kaufmann Simon Veit verheiratet war (aus dieser Beziehung stammen Jonas und Philipp Veit, Mitbegründer des Nazarener-Malerbundes), sich scheiden ließ, Schlegel heiratete, zunächst zum Protestantismus und später zum Katholizismus konvertierte. Der Freund Schlegels, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, verteidigte den Roman und rechnete, gut romantisch, den Liebesakt auch auf Gott hoch: durch den Anderen liebt man auch den ganz Anderen, Gott, erst hier vollendet sich die romantische Universalpoesie. Ob die Liebesehe, die Schlegel erfunden hat, bei ihm wirklich zu großem Glück führte, darf man, wenn man seiner Biographie folgt, eher bezweifeln, denn Schlegel wurde im Alter zu einem Sklaven des Bacchus, und leider hat sich auch Schleiermachers Intuition, Sexualität mit einer Gotteserfahrung zu verbinden – im Hinduismus und Buddhismus übrigens ein gangbarer Weg – innerhalb der Theologie nicht durchsetzten können. Zu groß waren die Vorbehalte, hatte doch Augustin, in seiner Jugend ein erotischer Libertin, behauptet, durch den Geschlechtsakt würde die Erbsünde weitergereicht.
Von dieser Eros-Feindlichkeit hat sich die Theologie nie ganz erholt. Die Theologie hat sich deshalb auf die Agape, die Nächstenliebe, konzentriert – jüngst etwa wortreich Josef Karl Ratzinger, der amtierende Papst Benedict XVI. Worin unterscheiden sich aber genauer Eros und Agape? Die Tiefe des Gefühls Liebe widersteht einer begriffskalten Einzäunung. Hier hilft eine phänomenologische Skizze weiter. Wie zeigt sich die Liebe? Liebe ist ein Ort der Zuwendung. Menschen sind gesichtshafte Wesen mit einem Antlitz, auf dem die ganze Klaviatur der Gefühle sich abspielt: Ekel, Scham, Haß, Zorn, oder eben Liebe. In der Liebe richtet sich ein Mensch auf ein Gegenüber aus, man trifft sich im Augen-Blick. In der Liebe als Eros ist ein Mensch vom anderen Menschen affektiv betroffen, der Liebende fühlt sich magisch, leidenschaftlich angezogen und begehrt eine symbiotische Verschmelzung. Man ist entflammt, sagt der Volksmund, und meint die auffällige Rötung des Inkarnats. Der Eros ist eine vitale Kraft, die, wie jede Kraft, gebildet werden muss, um den begehrten Partner nicht zu überfordern oder im Gegenzug sexuell abhängig zu werden. Liebe als Agape unterscheidet sich von der Liebe als Eros dadurch, dass diese Beziehung nicht reziprok ist. Der Agape geht es um den Anderen, der als dieser individuelle, verwundbare Mensch wahrgenommen wird und dem man beistehen will. Ziel der Begegnung ist nicht eine symbiotische Beziehung, sondern ein helfendes Verhältnis, um dem bedürftigen Anderen Freiheit zu ermöglichen. Die Agape ist die vitale Kraft gegen die Indifferenz und Kälte der Welt, tut, was dem Anderen dient (1Kor 10,24.), ist im Unterschied zum Eros also selbstlos. Dem Eros geht es um gemeinsames Glück, um auch punktuelle Erfüllung. Lustlos darf aber auch die Agape nicht sein, weil sonst die Liebe zur sittlichen Pflicht verkommt. Liebe als Agape ist immer auch die befriedigende Erfahrung, dass es dem Anderen besser geht. Eros und Agape sind also deutlich voneinander zu unterscheiden, man darf beide aber auch nicht zu einem Gegensatz stilisieren. Göttliche Liebe wird im Alten und Neuen Testament als leidenschaftliches Brennen (Hos 11,8; Lk 15,20) beschrieben – Eros ist also auch der Agape eingeschrieben. Sie kommt dort zur Einheit, wo das Glück des Anderen als gemeinsames Glück empfunden wird.
Liebe in der Kunst
Die brennende Leidenschaft beschreibt sehr genau auch die künstlerische Vitalkraft, die sich an Personen, aber auch an Materialen entzünden kann. Auch Materialien können Gesichter haben. Der künstlerische Eros gewinnt in allen Gattungen Gestalt. Man wird aber allerdings die Agape nicht ganz aus dem künstlerischen Prozess ausklammern können, sofern man im Begriff der Agape das Gemeinschaftsgefühl herausstreicht. Auch Künstlern geht es um eine – allerdings nicht ganz selbstlose – Gemeinde (Lesergemeinde, Künstlergemeinde). Liebe steht also an der Wiege künstlerischer Anstrengung. Sie kann ganz unterschiedliche Gestalt annehmen, kann selbst Thema werden. Zwei aktuelle Versuche möchte ich kurz beschreiben.
Jonathan Franzen wählt als Thema seines jüngsten Romans Freiheit die Geschichte einer sehr langen ehelichen Liebe (Freundschaft und Kindschaft sind eingeschlossen). Unter Genieverdacht steht der Roman deshalb, weil Franzen das Kunststück fertig bringt, die Liebe nicht scheitern zu lassen, im Gegenteil, über mentale Abgründe hinweg kommt es zu einem furiosen Schluss, der nie kitschig wirkt. Dieser Roman ist nichts weniger als eine Einlösung des Liebesversprechens in der Kunst und durch die Kunst. Ein zweites Beispiel zeigt, wie das Thema Liebe auch zu missionarischen Zwecken eingesetzt werden kann. Ende der achtziger Jahre lernt der amerikanische Künstler Jeff Koons )durch eine vergoldete Porzellanfigur von Michael Jackson, der seinen Affen Bubbles zärtlich an sich drückt, Teil der Serie Banality, berühmt geworden) die in Ungarn geborene Ilona Stadler kennen, ein in Italien unter dem Namen Cicciolina gefeierter Pornostar, die, felix Italia, zur Abgeordneten gewählt wurde und medienwirksam die Partei der Liebe gründete. Jeff Koons heiratet die Sexfilm-Diva, zeugt mit ihr ein Kind, Maximilian, das er als seine ‚biologische Skulptur‘ feiert. Während der Beziehung entsteht eine vielteilige Skulpturen- und Fotoserie, Made in Heaven, die die beiden beim Geschlechtsakt in wechselnden Stellungen abbilden. Die mehrjährige Performanz verdichtet sich in Skulpturen wie »Blow Job«, »Glass Dildo«, »Ilona’s House Ejaculation«, »Ilona’s Asshole«. Die Ehe zerbricht, weil Ilona Stadler sich irgendwann weigert, weiterhin als lebendiges Kunstwerk zu funktionieren. In einem Gespräch, das Jeff Koons mit Jonathan Jones vom The Guardian geführt hat und im Freitag abgedruckt wurde (www.freitag.de/kultur, 02.07.2009), nennt er als das Thema der Serie Made in Heaven „‚die Beseitigung von Schuld und Scham. Ich hatte in Florenz ein Gemälde von Massacio gesehen,‘ – eine in der Brancacci-Kapelle ausgestellte, aus dem 15. Jahrhundert stammende Darstellung der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. ‚Es hat mich sehr berührt. Man sieht die Schuld und die Schande, die Adam und Eva spüren.‘ Eine Antwort auf dieses Gemälde wollte Koons schaffen, ein Werk, in dem es um das Nachdem-Sündenfall geht, aber ohne die ganze Schuld und Schande.‘“
Das letzte Wort zum Thema hat Laurence Sterne: „Die Alten sind darüber einig, Bruder Toby, sagte mein Vater, daß es zwei verschiedene Arten von Liebe gibt, je nachdem das Gehirn oder die Leber davon angegriffen ist; – ich glaube daher, jeder Verliebte sollte sich zuerst darüber klar zu werden suchen, in welchem von diesen beiden Fällen er sich befindet.“
Klaas Huizing im OPUS Kulturmagazin Nr. 24 (März/April 2011)