Im MMORPG „Guild Wars 2“ sind selbst die Lüfte erkundbares Terrain © Laura Rotellini, ArenaNet
In Zeiten, in denen das alltägliche Leben eingeschränkt ist, bietet es sich an, zumindest in Gedanken an fremde Orte zu entfliehen und dort ein Stück Freiheit zu genießen. Um unsere Kreativität anzuregen, können wir beispielsweise zu Literatur oder Musik greifen, die uns zum Träumen einladen. Doch auch in Videospielen liegt ein derartiges Potenzial verborgen.
Insbesondere das Genre der MMORPGs bietet eine Fülle an Möglichkeiten, um als Spieler in eine völlig andere Welt einzutauchen und deren Reichtümer zu entdecken. Die Bezeichnung MMORPG ist dabei eine Abkürzung für den Begriff „Massively Multiplayer Online Role-Playing Game“, womit Videospiele gemeint sind, die eine Internetverbindung voraussetzen und sich durch ihre große Nutzerzahl auszeichnen. Die Spieler schlüpfen in die Rolle ihres selbst gestalteten Avatars, der sich als Held seinen Platz in dieser neuen Welt erkämpft und zahlreiche Abenteuer bestreitet. Dennoch handelt es sich in MMORPGs um persistente Welten, die sich auch ohne das Zutun der Nutzer beständig weiterentwickeln und so ihren Wiederspielwert erhalten. Diese Aktualisierungen werden häufig durch Abonnementgebühren finanziert.
Doch wie genau lässt sich die Faszination der Spieler für dieses Genre – gerade im Vergleich zu anderen Videospiel-Typen – begründen? Der entscheidende Faktor scheint hierbei in der Konstruktion der Welten zu liegen, welche die Grundlage einer jeden Reise bilden. Ob der Spieler einer stringenten Geschichte folgt oder seine Umgebung auf eigene Faust erkundet, an jeder Ecke lassen sich außergewöhnliche Charaktere, Schauplätze und Handlungsverläufe entdecken. So werden MMORPGs von zahlreichen, oftmals humanoiden Völkern besiedelt, die ihre eigenen Kulturen mit sich bringen. Der Begriff „Kultur“ ist hierbei umfassend zu verstehen: So existieren individualisierte Gesellschaftssysteme, Sprachen und Religionen, die häufig Parallelen zur realen Welt aufweisen. Die Kulturen prägen im gemeinsamen Wechselspiel den historischen Verlauf der Welt, welchen die Spieler aktiv miterleben können. Allerdings basieren MMORPGs zeitgleich auf facettenreichen Hintergrundgeschichten, die in der Fachsprache als „Lore“ bezeichnet werden. Diese in der Vergangenheit liegenden Ereignisse versammeln zahlreiche Grunderfahrungen menschlichen Lebens, die den Videospielen Tiefe verleihen und spürbare Auswirkungen auf gegenwärtige sowie zukünftige Handlungsstränge haben. Ob es nun darum geht, vormals verehrte Gottheiten zu bezwingen oder eine Jahrhunderte andauernde Fehde zwischen verschiedenen Völkern beizulegen – ein Blick in die geschichtlichen Ursprünge bietet dem Spieler ein intensives Verständnis für aktuelle Lagen. Demnach scheint es auch nicht verwunderlich, dass im Kontext der MMORPGs oftmals Romane ihren Weg in den Buchhandel finden, die bedeutsame Ereignisse der Spielgeschichte zum Thema haben. Abseits der „von Menschenhand“ geschaffenen Komponenten warten Online-Rollenspiele allerdings auch mit einer eindrucksvollen Gestaltung der Natur auf. Seien es sengend heiße Wüsten, schwindelerregende Gebirgslandschaften, dichte Wälder oder tropische Strände als Pforte zu azurblauen Ozeanen – eine Erkundung der verschiedensten Biotope weckt zwangsläufig die Abenteuerlust der Spieler und gleicht einer kleinen Reise um die Welt. Dabei gilt hervorzuheben, dass diese Reise keineswegs allein bestritten werden muss. Durch die bedeutsame Größe der aktiven Community lassen sich auf einfache Weise Weggefährten finden, die sich ebenfalls den Wagnissen des MMO-Universums stellen möchten und die Spielerfahrung durch ein kommunikatives Element bereichern.
Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, die MMORPGs zur Flucht aus dem realen Alltag bieten, ist es nicht überraschend, dass ihnen ein gewisses Suchtpotenzial inhärent ist. Doch auch hier gilt der Grundsatz, der bei jedwedem Medienkonsum bedacht werden sollte: Alles in Maßen. Und solange dieser Grundsatz eingehalten wird, steht einem fantastischen Spielerlebnis nichts mehr im Wege.
Laura Rotellini im OPUS Kulturmagazin Nr. 80 (Juli / August 2020) in der Rubrik popKult