Alerce Milenario © Patagonia Argentina unter der CC BY-SA 3.0-Lizenz
Alerce Milenario ist das älteste lebende Individuum der Erde. Wer ihn betrachtet erkennt, dass die Geschichte des homo sapiens eine kurze ist. Das gilt im Vergleich zu anderen Lebewesen, erst Recht aber im Vergleich zu Arten des Pflanzenreichs. Alerce Milenario ist ein Baum, eine Patagonische Zypresse.
Dennoch sind es unsere menschlichen Interessen und Werte, die die Diskussion um die Erhaltung der Wälder bestimmen. Natürlich, werden manche einwerfen: „Wir sind ja auch die einzigen vernunftbegabten Lebewesen! Wer, wenn nicht der Mensch, muss sich über die Auswirkungen seiner Handlungen Gedanken machen?“
Die meisten sind sich einig, dass die heutige Menschheit eine Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen hat. Die Menschen der Zukunft sollen auf einem lebenswerten Planeten leben können. Für viele ist es zumindest moralisch geboten, dass wir heutige Menschen uns zumindest anstrengen sollen, diese lebenswerte Zukunft zu ermöglichen.
Wenn man Handlungen moralisch bewertet, die Auswirkungen auf Menschen in der Zukunft haben, wird jedoch häufig das sogenannte Nicht-Identitätsproblem übersehen. Dieses Problem wurde vor allem durch Derek Parfit bekannt. Es steckt in allen Fragen zu den Auswirkungen von Handlungen auf zukünftige Menschen. Daher steckt es auch in der Frage, ob man es wirklich als schlecht bewerten kann, wenn die Menschheit sich heute für einen Raubbau an den Wäldern entscheiden würde.
Auf den ersten Blick liegt die Antwort nahe: Der Raubbau an den Wäldern würde dazu führen, dass Millionen von Menschen in der Zukunft eine geringere Lebensqualität haben. Diese Lebensqualität ist nicht nur niedriger im Vergleich zu den Menschen der Gegenwart. Sie ist auch niedriger als sie es wäre, wenn die Menschheit die Wälder erhalten würde. Dennoch: Auch das Leben dieser zukünftigen Menschen in einer Welt ohne Wälder werden sie selbst sicherlich als lebenswert betrachten.
Wenn wir uns heute für den Erhalt der Wälder entscheiden, würden die gerade beschriebenen Menschen in der Zukunft nicht existieren. Sie würden in ihrer konkreten Form niemals geboren werden. Die Existenz von Menschen ist abhängig von den Umständen unter denen sie geboren wurden. In unserem Beispiel würden die Umstände ihrer Existenz entscheidend davon bestimmt, dass es keine intakten Wälder mehr gibt. Menschen, die in dieser Zukunft geboren würden, sind gänzlich andere, als diejenigen, die auf die bewaldete Welt kommen.
Ist ein lebenswertes Leben für diese Menschen schlechter, als der Umstand überhaupt nicht existiert zu haben? Lässt man sich auf diesen Gedanken ein, kann die Antwort nur „Nein“ lauten. Mehr noch: Da die Menschen nie existieren würden, wenn wir uns für die Erhaltung der Wälder entscheiden würden, wäre eine Entscheidung für den Raubbau an den Wäldern also nicht nur nicht schlechter, sondern sie käme den zukünftigen Menschen zugute. Nur so kommen sie überhaupt auf die Welt; ohne den Raubbau hätte es sie in ihrer konkreten Existenz gar nicht gegeben.
Parfit führt uns zu einer erstaunlichen Konsequenz: Unsere Entscheidung scheint für zukünftige Generationen in keinem Fall die schlechtere zu sein, auch wenn sie die Lebensqualität für mehrere Jahrhunderte erheblich senkt.
Geschützt in einer kühlen, feuchten Schlucht blieb Alerce Milenario von Bränden und Abholzung verschont. Wer ihn erblickt, erahnt ein ereignisreiches Leben: Ein Großteil des Stammes ist abgestorben, ein Teil der Krone fehlt, und er wurde von Moosen, Flechten und anderen Bäumen bewachsen, die in seinen Spalten Wurzeln schlugen.
Man geht mittlerweile davon aus, dass er bereits in den Küstengebirgen des heutigen Chile wuchs, als unsere Vorfahren die Schrift erfanden. Vernunftbegabte Lebewesen bedrohen die Existenz von Alerce Milenario. Die Entscheidungen, die die Menschheit heute trifft, haben ganz konkrete Auswirkungen auf seine konkrete Existenz. Er wird hoffentlich noch da sein, wenn zukünftige Menschen sich in hunderten von Jahren immer noch Gedanken über das Nicht-Identitätsproblem machen.
Martin Kerz im OPUS Kulturmagazin Nr. 92 (Juli / August 2022) für den Schwerpunkt „Wald“