Tamara Theisen und Lennart Hillmann als Anna und Jonas in „Nichts was uns passiert“ am Theater Trier,© Marco Piecuch
Im Theater Trier feierte das Schauspiel „Nichts, was uns passiert“ nach dem gleichnamigen Roman von Bettina Wilpert Premiere. Ein eindrückliches Stück über die Wahrheitsfindung.
Einem einstürzenden Monument gleichen die Buchstabenblöcke, die Dietmar Teßmann als kategorisches N.I.C.H.T. in riesigen Lettern auf der mittigen Bühne platziert hat. Das „C“ liegt auf dem Boden und das „T“ ist gewaltig in Schieflage geraten. So wie die Sicherheit von Anna und Jonas, niemals (denn das steckt in diesem „Nicht“) zum Opfer oder Täter eines Falls sexueller Nötigung zu werden. Damit ist es vorbei, als Jonas in Verdacht gerät, Anna vergewaltigt zu haben. Als eine „letzte Bastion der Geschlechterzuschreibung“ bei der Frauen automatisch als passive Opfer und Männer als aggressive Aktivisten wahrgenommen werden, hat die feministische Kulturwissenschaftlerin Mithu Melanie Sanyal die gesellschaftliche Wahrnehmung sexueller Gewalt kritisiert. Eben solche Automatik wollen Anna, die Translationswissenschaftlerin mit dem Bar-Job und der an seiner Dissertation arbeitende Dozent Jonas keinesfalls akzeptieren. Und das tut auch Bettina Wilpert nicht, deren Roman „Nichts was uns passiert“ die Grundlage für das gleichnamige Bühnenstück bildet, das jetzt in der Außenspielstätte des Theaters Trier in der Europäischen Kunstakademie Premiere hatte und dessen Protagonisten Anna und Jonas sind.
Erschienen ist Wilperts Roman 2018 in der Hoch-Zeit der „Metoo“- Debatte und just in dem Jahr, als das schwedische Sexualstrafrecht verschärft und jede sexuelle Handlung ohne vorheriges erklärtes Einverständnis zur Strafsache erklärt wurde. Für ihr Trierer Haus haben die Dramaturgin Lara Fritz und ihr Kollege Philipp Matthias Müller eine intelligente Bühnenadaption des Romans erarbeitet, die Mihails Gubenko in Szene gesetzt hat (Kostüme Nadja Szymczak). Herausgekommen sind dabei 80 Minuten eindrückliches lebendiges Diskurstheater, das die Bühne zu einem kurzweiligen Ort der Aufklärung und der Erkenntnisfähigkeit macht. Um was es geht: Anna und Jonas lernen sich beim Public Viewing während einer Fußball-Weltmeisterschaft kennen und verbringen nach Genuss von reichlich Alkohol die Nacht miteinander. Ihr Wiedersehen bei der Geburtstagsparty eines Freundes verläuft weniger harmonisch. Betrunken landen sie in Jonas Bett. Am nächsten Morgen fühlt sich Anna vergewaltigt und erstattet nach einigen Wochen Anzeige. Jonas bestreitet vehement den Vorwurf sexueller Nötigung und beharrt darauf, der Sex sei einvernehmlich gewesen. Eine quälende Suche nach der Wahrheit beginnt, aus der beide menschlich wie sozial beschädigt hervorgehen.
Es ist die große Stärke dieser Inszenierung, dass sie nie die Diskursebene verlässt. Der Fall, der hier verhandelt wird, bleibt dialektisches Gedanken-Spiel im besten Sinn. Gubenkos Inszenierung ist ein lebendiger, szenisch aufgelöster Diskurs über die Komplexität der Wahrheitsfindung im Rechtsstaat, in dem die Schuld dem Täter zweifelsfrei nachgewiesen werden muss, sowie eine Absage an die verheerenden Empörungsszenarien der sozialen Medien und ihrem Hang zur Lynchjustiz. Zur Diskussion steht zudem die Frage der Eigenverantwortung des mündigen Menschen und die Subjektivität von Wahrnehmung und Erinnerung. Dabei wechseln die Spielerinnen und Spieler die Rollen und nehmen unterschiedliche Positionen zur Sache ein, wie die der Ermittler oder Eltern von Jonas. Was die Wahrheit ist, bleibt offen. Das Verfahren wird eingestellt. Die Diskussion ist abgeschlossen. Das Spiel endet ausgelassen.
Gubenko inszeniert mit Tempo, poetischem Talent und sicherem rhythmischen Gespür für den Wechsel von Erzählung und Figurenrede. Verlassen kann er sich dabei auf ein fabelhaftes Schauspielerteam, allen voran Tamara Theisen als Anna und Lennart Hillmann als Jonas, die überzeugend die Balance zwischen Betroffenheit und reflexiver Distanz halten. Anna Pircher überzeugt als „einäugige“ Feministin und Freundin Verena. Ihr steht Léon Hänig als Jonas loyaler, um Objektivität bemühter Freund Hannes gegenüber. „Die Wahrheit ist ein Ding, hart und beschwerlich“, wusste schon Kurt Tucholsky. Hier was es einmal mehr zu erleben. Viel Applaus im vollen Saal!
Eva-Maria Reuther
Weitere Aufführungen: 13.01. und 4.02. je um 19.30 Uhr, 7.02. um 10 Uhr