Was liebt, was hasst er
Jürgen Pitzer, Düsseldorf, den 17. April 2022
Spiegelbilder oder mit den Waffen von Kunst und Kultur
„Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen!“ Wolfgang A. Mozart Wer sich im Spiegel erkennt, hat Selbstbewusstsein. Das gilt für intelligente Tiere wie Raben, Affen zum Beispiel, erst recht natürlich auch für den Homo Sapiens. Für ihn eröffnen sich mit den gespiegelten Realitäten sogar neue Welten. Er kann versuchen, das Bild von sich gezielt und kontrolliert zu verändern. Wie es die Geschichte des Dorian Gray zeigt, besteht im Extremen aber auch die Gefahr, das Bild zu missbrauchen, es anstelle der Realität zu verwenden und in Wirklichkeit unter dem Deckmantel des schönen Scheins Gräueltaten zu begehen bis zu dem von Oscar Wilde in seinem Roman beschriebenen bitteren Ende. Irgendwie erinnert die Romanfigur an die Vita des russischen Präsidenten Putin, der es lange Zeit offenbar vermocht hatte, in der Öffentlichkeit das Bild eines tatkräftigen, dynamischen und auf die partnerschaftliche Einbettung Russlands in das demokratische Beziehungsgeflecht des Westens abzielenden Politikers zu entwerfen. Spätestens mit den Bildern aus den von russischen Soldaten bis zur Unkenntlichkeit zerstörten ukrainischen Dörfern und Städten, den nach Tausenden zählenden dabei getöteten und entwürdigend entstellten Menschen ist dieses Bild zerrissen, und stattdessen ist es die Fratze des Schlächters, wie ihn Präsident Biden bezeichnete, die uns immer dann entgegenkommt, wenn sein Name erscheint.
Andererseits gilt die spielerische Veränderung der Person, wie die im Schauspiel, Film oder Fernsehen vorgeführten Anverwandlungen von fremden Identitäten im Rollenspiel, als besondere Kunstform, ja einigen als die höchste in unserem Kulturkreis. Weil die Fähigkeit, sich in andere Menschen glaubwürdig hineinzuversetzen, unter anderem als ein Zeichen von emphatischer Menschlichkeit gewertet wird. Besondere Menschen gelingt es, in eine Rolle so hineinzuwachsen, dass kaum mehr unterscheidbar ist, was nun Rollenspiel und was der eigentliche Persönlichkeitskern ist. Zu den raren Spezies dieser Art, gehörte zweifellos der jüngst verstorbene Michael Degen, der seine Rolle als „Vice-Questore“ Patta in den Verfilmungen der Dona Leon-Krimis so gestaltete, dass er mit dem Patta sich in eine wunderbare selbstironische Persönlichkeit verwandelte, Rolle und Person also untrennbar zusammenwuchsen.
Die Möglichkeiten der Kunst und des Künstlers und ihre Grenzen sind es, die derzeit aus unterschiedlichen Blickwinkeln misstrauisch diskutiert werden. Da wird zum Beispiel in Hannover eine junge Künstlerin wieder ausgeladen, weil die veranstaltende „Friday for Future“ Bewegung sich daran stößt, dass die junge, und hier muss man sagen: weiße Dame sog. Dreadlocks trägt, die in der Freiheitsbewegung der Schwarzen zum Erkennungszeichen geworden sind. Ähnliche Diskussionen gab es bereits im Zusammenhang mit der Frage, ob es angemessen sei, dass eine Weiße die Übersetzung eines von einer Schwarzen gefertigten Gedichtes erlaubt sei. Man reibt sich die Augen und fragt sich, wo denn die Idee von der
Kunst als verbindende Kraft, als Möglichkeitsraum für gemeinsame neue Ideen geblieben ist.
Politisch schwerwiegender sind dabei die im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine aufgekommenen Forderungen nach einer scharfen Abgrenzung zu russischen Künstlern, und nicht nur solchen, die sich explizit hinter Putin gestellt haben. Deswegen boykottierte der ukrainische Botschafter das gemeinsame Konzert von russischen und ukrainischen Künstlern, zu dem Bundespräsident Steinmeier eingeladen hatte. Auch in Düsseldorf gab und gibt es Benefizveranstaltungen, die genau das zum Ziel erklären, nämlich die Gemeinsamkeiten der Künstler über die Grenzen von ethnischen oder nationalen Zugehörigkeiten herauszustellen und zu demonstrieren als Möglichkeit, die aktuellen Grenzziehungen durch den Krieg zu überwinden. Besonders beeindruckend in dieser Hinsicht war das unter dem Motto „Kissin and friends for Ukraine“ am 2. April gegebene Benefizkonzert in der Tonhalle mit Evgeny Kissin Klavier, Gidon Kremer Violine, David Geringas Violoncello und Gierdre Dirvanauskaite Violoncello, also einer bunten Mischung von freundschaftlich verbundenen Künstlern aus Russland und dem Baltikum. Sie spielten Kompositionen von Bach, Chopin, Schostakowitsch bis Peteris Vasks. Ginge es nach den Identitären, dann hätte der Russe Kissin niemals die Polonaise As-Dur, die sog. Heroische, die Chopin zur Unterstützung seines Volkes im Befreiungskampf gegen Russland komponiert hatte, David Geringas auch nicht die Kompositionen von John Corigliano und Bach spielen dürfen usw.
Wer Kunst und Kultur nationalistisch aufteilt, betreibt genau das gleiche Geschäft wie diejenigen, die mit ähnlicher Motivation Kriege anzetteln und das gemeinsame Fundament der grenzenlosen Freizügigkeit für alle Menschen zu zerstören suchen. Kunst und Kultur wirken nur für diejenigen als bedrohlich, störend oder subversiv, die sie ohnehin abschaffen wollen. Auf dies Formel hat es Joseph Goebbels gebracht: „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver.“ Deswegen müssen wir gerade darum bemüht sein, die Möglichkeiten der Kunst und Kultur zu bewahren, denn, wie der ukrainische Schriftsteller Sergej Garassimow feststellte: „Kultur ist das das Einzige, was die Menschen daran hindert, einander abzuknallen.“