Der Meister an seinem Leuchttisch, Julien Mellano in „Ersatz“ beim diesjährigen Festival Perspectives. © Laurent Guizard
Endlich wieder Perspectives vor Publikum. Festivalchefin Sylvie Hamard hat vorab alles richtig gemacht, als sie rund um den Saarbrücker Pingusson-Bau auf Live-Auftritten setzte und einen vielen mundenden Cocktail kredenzte. Alles dabei: Die Filmfassung des Dokumentartheater-Stars Milo Rau „Das neue Evangelium“. Die Jesus-Geschichte, verfilmt in Matera auf den Spuren eines Pasolini (1964) und Mel Gibson (2004) mit seiner Idee, Jesus mit dem 1985 im Kamerun geborenen Aktivisten Yvan Sagnet als ersten dunkelhäutigen Jesus der Filmgeschichte zu besetzen. Der wiederum buchstäblich als Menschenfänger in Materas Asylheimen seine Jünger „castet“. Nach „Hate Radio“ und „Five Easy Pieces“ geht auch dieser neue Milo Rau unter die Haut. Und natürlich durfte ein weiterer Programm-Dauergast nicht fehlen: „Rimini Protokoll“ luden für ihre „Art Walks“ per App zu ungewöhnlichen Stadterkundungen ein, nicht immer an „roten Ampeln“ konform mit der Straßenverkehrsordnung.
Eindeutige Bringer waren die Akrobatik-Einladungen. Anmutig fließende Körperbilder zauberten die Zwillinge Théo und Lucas Enriquez in „Tricot“ auf ihre sehr variable Bühne, in einer solchen Choreographie verblüffend unverbraucht. Noch abgerundeter der Beitrag „Gap of 42“: wie Christopher Schlunk und Iris Pelz ihren Größenunterschied von 42 Zentimetern eine halbe Stunde lang durchbuchstabierten, das war amüsant, immer wieder ob der Akrobatik ins Staunen versetzend und als durchgehende Geschichte lesbar. Last but not least verstörend der Einstünder „Ersatz“ vom Collectif AIE AIE AIE. Julien Mellano entführt von seinem Leuchttisch aus in eine Welt zwischen Science Fiction und künstlicher Intelligenz. Atemraubende Szenenwechsel, Angst machend, wenn der Protagonist in vermeintliche Menschenmengen ballert oder plötzlich in einen Menschenaffen mutiert. Das alles mit Tonspur und ein paar sich aneinander klickenden Pappschnitzeln. Unglaublicher Ideenreichtum in einem phantastischen Spiel, an dessen Entschlüsselung der Wirklichkeitsbezüge mancher noch lange zu knacken hatte.
Burkhard Jellonnek im OPUS Kulturmagazin Nr. 87 (September / Oktober 2021)