Kay Voges will Gegenwart mit Mitteln der Gegenwart reflektieren © Marcel Urlaub
Dass in der Welt nichts so beständig ist wie der Wandel, erkannte lange vor jeder Evolutionstheorie schon die vorsokratische Philosophie. In unseren Tagen sind es die Globalisierung und die binären Systeme der Digitalisierung, die maßgeblich zur Veränderung der Welt und ihrer Wahrnehmung beitragen. Eine Gegenwartskunst, die den Anspruch auf Aktualität und Zeitgenossenschaft erhebt, darf sich solchen Neuerungen nicht verschließen. Für Kay Voges, den Intendanten des Dortmunder Schauspiels, ist die digitale Herausforderung Programm. „Ich versuche, in meinen Arbeiten über meine Wahrnehmung der Welt zu sprechen“, erklärt der Regisseur, „über eine Gegenwart, in der wir von Digitalströmen umgeben sind, die uns in Lichtgeschwindigkeit die ganze Welt nach Hause bringt und in der Nah und Fern eine ganz neue Größenordnung bekommen“. Wir sitzen im Studio des Schauspiels. Um uns herum geht es analog betriebsam zu. Der amtierende Dortmunder Intendant und designierte Direktor des Wiener Volkstheaters ist einer der innovativsten und experimentierfreudigsten Theatermacher der Republik. Seit bald einem Jahrzehnt versteht sich sein Haus als „Labor für digitale Gegenwart“; Voges hat es zu einer vielbeachteten Referenzadresse für digitale darstellende Kunst gemacht. Für ihn ein unbedingtes Desiderat: „Wir leben im digitalen Zeitalter und dort findet auch das Theater statt“. Woraus sich für den Regisseur die nächste Frage ergibt:
„Wie erzählen wir über unsere Gegenwart mit Mitteln der Gegenwart?“
Voges Arbeiten liefern darauf gleichermaßen eindrückliche Antworten wie Beiträge zur notwendigen Diskussion. Seine Inszenierungen sind komplexe Kunstwerke aus Spiel, Live-Film und Digitaltechniken, die dennoch dem Besucher jenen „poetischen Traum“ lassen, von dem Heiner Müller spricht und der das Theater zu einem magischen Ort macht, den auch Voges erhalten will. Nun sind der Einsatz digitaler Bilder ebenso wie das Live-Filmen des Bühnengeschehens nicht erst seit Voges im Theater üblich. Allerdings sind die Versuchsanordnungen des 1972 geborenen Regisseurs ausnehmend experimentierfreudig. Wie etwa in seinen „Parallelwelten“ bei denen eine Datenleitung von Dortmund nach Berlin dafür sorgte, an zwei weit entfernten Spielorten subjektive Gleichzeitigkeit des Theatererlebnisses zu ermöglichen. Zudem gehen die digitalen Bilder seiner Inszenierungen über die herkömmliche Funktion als Kommentar oder Raumerweiterung hinaus. Sie verdichten sich wie im „Evangelium“ oder der „Stadt der Blinden“ symbiotisch mit dem Spiel zum bildmächtigen Gesamtkunstwerk. Bei aller digitalen Innovationsfreudigkeit weist seine Ideenlage den Regisseur als einen gesellschaftskritischen Theatermacher aus, der in aufklärerischer Tradition das Theater als einen Ort der Selbstvergewisserung und kritischen Weltbetrachtung ansieht. „Wir müssen die Probleme des digitalen Zeitalters verstehen und reflektieren“, so der Regisseur. Womit sich Philosophie, Gesellschafts- und Naturwissenschaften seit langem auseinandersetzen, stellt Voges anschaulich zur Debatte: die fragwürdige Wahrheit der Bilder und ihre Manipulation durch digitale Techniken, die Bilder- und Informationsflut einer massenmedialen globalen Welt, die Relativität der Gleichzeitigkeit. Allesamt Teile einer komplexen Wirklichkeit, deren Widersprüche es, wie Voges betont, auszuhalten gelte. Einmal mehr folgt der Regisseur mit neuen Mitteln langer künstlerischer Tradition, wenn er fordert: „Wir müssen lernen, Räume größer zu denken als nur das, was uns umgibt“.
Mit der neuen Dortmunder Akademie für „Theater und Digitalität“, deren Gründungsdirektor Voges ist, hat das Anliegen des Theatermachers jetzt seine institutionelle verlässliche Form erhalten. Hier, wo sich Kunst und Wissenschaft treffen, sollen künftig die Bedingungen der Digitalität im Theater erforscht werden. Als künstlerischer Leiter ist Regisseur Marcus Lobbes für die inhaltliche Programmgestaltung der Akademie zuständig. Regelmäßig wird die Einrichtung Stipendien für innovative Projekte und Ideen ausschreiben. Schon jetzt sei das Interesse daran groß, berichtet Lobbes, die Bewerber seien international. Die Zielsetzung ist klar: „Wir wollen Ansprechpartner für die Theater in Deutschland und Europa werden“. Viel sei noch zu tun, wenn es um Theater und Digitalität gehe, resümiert Voges. Nicht allerorts trifft seine digitale Innovationslust auf Gegenliebe. Als Totengräber des Theaters wurde er gar mancherorts verdächtigt. Dabei tut Voges mit seinen digitalen „Versuchsanordnungen“ eigentlich nur das, was das Theater seit jeher tun muss, um als zeitgenössisch wahrgenommen zu werden und seine Ausdrucksvielfalt zu aktualisieren. Er nutzt zeitgenössische Techniken als ästhetisches Mittel. Im Übrigen setzt auch Voges auf das dialogische Live-Gemeinschaftserlebnis Theater. „Wir werden nicht darum herumkommen, uns zu versammeln und anderen bei der Erzählung zuzuschauen“.
Eva-Maria Reuther im OPUS Kulturmagazin Nr. 75 (September/Oktober 2019), S. 118 & 119.