Brauchen wir einen Bildungskanon? © Besnik Spahijaj
Wir brauchen einen neuen Bildungskanon für den gesellschaftlichen Zusammenhalt! Wir brauchen einen neuen Kanon des Allgemeinwissens!
Vor allem zwei Gründe ließen in mir diese Überzeugung reifen: Erstens die Inhaltsleere der Bildungsdebatte und zweitens das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft. Bei den großen Streitthemen der Bildungspolitik der letzten Jahre – sei es die Dauer der Gymnasialzeit oder die Einführung der Bachelorstudiengänge – ging es immer um Äußerlichkeiten, um Strukturen. Dabei hätte der Streit die Chance geboten, sich auch mit den Inhalten der Bildung zu befassen: Was gehört eigentlich zum unverzichtbaren Curriculum des Gymnasiums? Welches Wissen, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sollen im Studium vermittelt werden? Leider wurde diese Chance kaum genutzt. Wenig hilfreich sind auch die ständigen Forderungen, vor allem aus der Wirtschaft, den Unterricht mit neuen Themen zu überfrachten.
Noch mehr bewegt mich allerdings, dass wir als eine Gesellschaft im Wandel einen gemeinsamen Bezugsrahmen für den so dringend nötigen Diskurs untereinander brauchen. Wir brauchen Bilder, Bücher, Filme, die alle kennen, um im Gespräch über Neues eine gemeinsame Basis zu haben. Wir brauchen sie, um uns gegenseitig besser zu verstehen, auch, um uns selber besser zu verstehen. Wir brauchen sie als Kitt, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Dass so ein Bezugsrahmen dringend nötig ist, zeigt sich immer wieder.
Erst kürzlich hat mich eine Umfrage alarmiert, die besagt, dass junge Zeitungsleser ein viel breiteres Interessenspektrum hätten als Nicht-Zeitungsleser. Das mag viele Ursachen haben und klingt für sich genommen harmlos. Betrachtet man jedoch den Medienkonsum Jugendlicher, erkennt man, dass sich da womöglich etwas Ungutes zusammenbraut: 2017 gaben nur 21 Prozent der 12- bis 19-Jährigen in einer Umfrage an, täglich oder mehrmals in der Woche die Printausgabe einer Tageszeitung zu nutzen. Zehn Jahre zuvor war es noch knapp die Hälfte dieser Altersgruppe. Nun habe ich selten kulturpessimistische Anwandlungen. Wenn sich Jugendliche heutzutage durch Soziale Medien statt mit Zeitungen informieren, soll mir das recht sein. Aber dabei besteht zumindest die Gefahr, zu sehr im eigenen Saft zu schmoren und durch die Filterblase der Sozialen Medien viele Themen zu vernachlässigen, die einem etwa in der Zeitung ganz nebenbei präsentiert werden.
Hinzu kommt die Individualisierung des Medienkonsums: Die Zeiten, da die ganze Familie vor der Tagesschau versammelt war, sind längst vorbei. Die Mutter hört die Nachrichten im Autoradio, der Vater liest sie am PC und die Tochter auf dem Smartphone. Jeder hat seine eigenen Quellen. Das kann bereichernd sein, das kann aber auch den Gedankenaustausch erschweren. Außerhalb von Fußballweltmeisterschaften sitzt Deutschland nur noch selten zusammen am medialen Lagerfeuer. Viele Einwandererhaushalte, man achte auf die Satellitenschüsseln, sind medial nicht hier, sondern in ihren Ursprungsländern unterwegs. Großorganisationen, die viele Menschen zusammenführen, wie die Kirchen, die Gewerkschaften und die Parteien, verlieren unaufhörlich Mitglieder.
Zusätzlich birgt die Aufspaltung der Gesellschaft in Ost- und Westdeutsche, Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund, Einwanderer, Flüchtlinge und Asylberechtigte die Gefahr, dass sich Deutschland in viele Inseln aufteilt, die nicht mehr miteinander verbunden sind. Deshalb möchte ich, dass möglichst viele einen konkreten Fundus an Werken kennen, um darüber zusammenzufinden. Dazu gehört, dass sich Westdeutsche mit DDR-Literatur befassen, genauso wie mit Filmen, die die Seele unserer deutschtürkischen Mitbürger erreicht. Zuwanderer haben wiederum die Pflicht, sich mit den Grundlagen des Zusammenlebens in Deutschland auseinanderzusetzen. Dabei geht es nicht nur um so schöne Sujets wie die Grundlagen der abendländischen Kultur, die sich in der griechischen Mythologie oder der Kunst der Renaissance zeigen, um Gemälde wie die Mona Lisa von Leonardo da Vinci oder den David von Michelangelo.
Es lauern viel herausforderndere Probleme: Als Neubürger erbt man ja auch die deutsche Geschichte – mit ihren schönen Seiten, aber vor allem mit ihren Schrecken. Man muss sich deshalb der besonderen deutschen Verantwortung stellen, die sich aus dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden ergibt. Diesem Erbe darf sich keiner entziehen! Deshalb gehören in meinen Kanon nicht nur »Faust I« von Johann Wolfgang von Goethe, sondern unbedingt auch das Tagebuch der Anne Frank. Oder nehmen wir die Religion: Wie kann es gelingen, dass wir gegenseitig unseren Glauben, oder auch Nichtglauben respektieren, und wo sind die Grenzen der Religionsfreiheit?
Weshalb nun meine ich, dass ausgerechnet ein Kanon dabei behilflich sein kann, der Vereinzelung des Landes entgegenzuwirken und die Menschen in Deutschland miteinander ins Gespräch zu bringen? Dazu muss ich präzisieren, was ich unter einem Kanon verstehe: eine explizite Liste kanonischer Werke, also Gemälde, Fotos, Musikstücke, Bücher, Gedichte, Filme und Theaterstücke, die jeder kennen muss.
In den 1970er-Jahren ist diese Idee an den Schulen unter die Räder gekommen, weil der Zeitgeist darin eine fortschrittshemmende Tradition sah, ein Instrument, das allen die herrschende Kultur als verbindlich überstülpen solle. Bildungsinhalte wurden daraufhin in vielen Lehrplänen durch Lernziele ersetzt, in der weiteren Folge durch Schlüsselqualifikationen, schließlich durch die schon erwähnten Kompetenzen und Bildungsstandards. Ich halte das für einen Fehler. Denn es ist nicht egal, an welchem Gegenstand die Schüler ihre Kompetenzen entwickeln. Es ist ein Unterschied, ob man seine Lesefähigkeit an der Gebrauchsanweisung für eine Waschmaschine schult oder an Schillers „Glocke”. Und für den gesellschaftlichen Diskurs ist ein konkreter Kanon allemal hilfreicher als die wolkige Prosa abstrakter Kompetenzen. Man kann natürlich sagen: Erfasse bitte »Politik in ihrer institutionell-formalen Dimension als Institutionen- und Regelsystem«, wie es im niedersächsischen Politik-Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe formuliert ist. Kürzer und klarer ist die Ansage: »Lies das Grundgesetz!« Man kann »interkulturelle Kompetenz« einfordern oder empfehlen: »Schau Dir mal einen Film von Fatih Akin an.«
Anhand eines konkreten Kanons kann man auch diskutieren, was auf die Liste gehört und was fehlt. Gibt es vielleicht einen deutsch-türkischen Rap, den jeder kennen muss? Zeichnet ein anderer Film die Stimmung in der DDR treffender als „Die Legende von Paul und Paula“? Warum muss man sich uralte Gemälde anschauen? Soll man Gedichte wie das »Abendlied« von Matthias Claudius kennen? Gehören nicht auch Filme wie „Star Wars”, Romane wie „Harry Potter” oder das Computerspiel „Minecraft” dazu? (Ich meine: Ja!) Zur Allgemeinbildung gehören für mich aber auch Sachbücher über die Evolutionstheorie und die Entstehung des Weltalls, über Politik und Philosophie. Ein solcher Kanon öffnet den Blick für die Breite der Allgemeinbildung, ohne sich im Unübersichtlichen zu verlieren – und er bietet auch eine Orientierungshilfe für Arbeiter- und Einwandererfamilien, die sich dort nicht so gut auskennen wie die Angehörigen der etablierten Mittel- und Oberschicht. So dient er der sozialen Gerechtigkeit: Gerade wem das Wohl der sozial Benachteiligten am Herzen liegt, der sollte sich daran erinnern, dass es Ziel der Arbeiterbewegung war, das »Bildungsprivileg der Herrschenden« zu brechen.
»Wissen ist Macht« proklamierte im vorletzten Jahrhundert der SPD-Politiker Wilhelm Liebknecht. Ich wundere mich immer wieder darüber, dass heute Politiker aus dem linken Spektrum aus vermeintlichen Gerechtigkeitsgründen die Bildungshürden senken. Das ist falsch; richtig wäre es, die Kinder, die es schwerer haben, dazu zu bringen, die Hürden nehmen zu können – und zu wollen. Mein Ideal ist, dass die Gesellschaft gemeinsam am Lagerfeuer sitzt. Die Alteingessenen erzählen ihre Geschichten, die Neuen kommen hinzu und bringen ihre Geschichten mit. So kann ein neues Wir entstehen.
Thomas Kerstan* im OPUS Kulturmagazin NR. 78 (März / April 2020) für das Schwerpunktthema Bildung
*geboren 1958, beobachtet seit mehr als zwanzig Jahren als Redakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT das Bildungswesen. Er ist Herausgeber von ZEIT CAMPUS und Chefredakteur ZEIT Studienführer. 2018 erschien sein Buch »Was unsere Kinder wissen müssen. Ein Kanon für das 21. Jahrhundert« in der Edition Körber.
Thomas Kerstans Vorschlag zum Bildungskanon finden Sie unter www.opus-kulturmagazin.de/kanon