Anatevka
Ein Musical, das den Nerv unserer Zeit trifft
Wer mit den gängigen Erwartungen an ein Musical der leichten Muse zur Premiere von Anatevka kam, sah seine Erwartungen möglicherweise nicht erfüllt. Anatevka hatte musikalisch viel zu bieten, wie das blendenden eingestellte Staatsorchester unter der kundigen Stabführung von Justus Thorau eindrucksvoll unter Beweis stellte.
Die Inhalte des Stücks werden in heiter beschwingter und Art und Weise mit eingängigen Melodien dargeboten, aber das Stück trifft den Nerv unserer Zeit in ganz besonderem Maße.
Aktueller mit Blick auf den neuen Krieg zwischen Israel und der Hamas nach dem entsetzlich grausamen Überfall der Hamas auf ein Kibbuz kann man ein Stück zu Judentum und jüdischer Lebensart kaum positionieren. Das Saarländische Staatstheater kommt seinem wichtigen Auftrag, auf der Bühne das Zeitgeschehen und die tiefgreifenden Probleme zur Diskussion zu stellen, in nahezu perfekter Weise nach.
In dem Ort Anatevka hat eine jüdische Bevölkerung über viele Jahre ihre Heimat gefunden und konnte relativ ungestört nach jüdischen Sitten und Gebräuchen ihr Auskommen finden. Relativ, denn wie so häufig in der jüdischen Geschichte ist auch diese Gemeinschaft Anfeindungen und Pogromen ausgesetzt. Nach (höflicher) Vorankündigung durch den örtlichen Wachtmeister (in seiner amtsüberzeugten Darstellung nicht zu übertreffen: Pitt Simon) brechen die Vertreter der Staatsgewalt in die jüdische Idylle ein und stellen Tevjes Haus auf den Kopf. Es kommt zwar dabei niemand persönlich zu Schaden, aber die Gewalt ist brachial. Und am Ende des Stücks wird die gesamte jüdische Bevölkerung aus Anatevka vertrieben.
Das ist ein Beispiel von Judenverfolgung, wie sie uns seit der ägyptischem und der babylonischen Gefangenschaft der Juden, der Unterjochung Palästinas durch die Römer, der Vertreibung der Juden aus Palästina in die Diaspora und von unzähligen Gruppen- und Einzelverfolgungen in Pogromen und seit dem Mittelalter überliefert ist und die in der Shoa ihrem grauenhaften Höhepunkt erreichte.
Beim Aufbruch aus Anatevka erzählen die ProtagonistInnen, wo und bei wem sie Zuflucht finden wollen. Dabei geht es primär um familiäre Verwandtschaftsbeziehungen, vor allem in Amerika, wo im Laufe der Zeit, die weltweit größte jüdische Gemeinschaft entstanden ist.
Die Probleme, mit denen Juden zu kämpfen haben, scheinen in dem Musical Anatevka deutlich auf. Man lebt im Shretl, in engem Zusammenhalt und von der übrigen Bevölkerung abgegrenzt, pflegt uralte Sitten und Gebräuche, die anderen Bevölkerungsgruppen nicht vertraut sind. Eheschließungen sind nur im Rahmen der vertrauten Gemeinschaft erlaubt. Die Heiratsvermittlerin Jente (glänzend verkörpert und Eva Kammigan) ist deswegen eine Institution. Für Tevje, den Milchmann und Hauptprotagonisten des Stücks ist es eine Katastrophe, dass eine seiner Töchter einen Mann nichtjüdischen Glaubens heiratet. So sind es denn vor allem die nicht gewünschten Eheanbahnungen der Töchter, die darstellerisch überzeugten. Das waren Nina Links als Zeitel, Bettina Maria Bauer als Hodel Anna Steinkamp als Chavan (alle drei auch gesanglich ein Genuss) Alessia Weyand als Shrintze und Theresa Prinz als Bielke). In der Beziehung zwischen Vater und Töchtern wird die erstaunliche Dialektik und Ambivalenz dieses Stücks deutlich zwischen Ablehnung und Verweigerung einerseits und Verzeihung und Versöhnung andererseits . Enrico De Pieri gelingt es vortrefflich, diesen einerseits auftrumpfenden Macho als Familienoberhaupt, andererseits jedoch auch als mitfühlenden, liebevollen Menschen zu verkörpern. Er wird dieser Rolle in allen Belangen, nicht zuletzt auch gesanglich, bestens gerecht. Besonders anrührend ist, wie Tevje nach 25-jähriger Ehe erstmals zu seiner Frau von Liebe spricht, und wie sie (wunderbar und überzeugend dargestellt von der exzellenten Schauspielerin Christiane Motter) ihn zunächst ganz prosaisch abfahren lässt und auf ihre langjährige treue Pflichterfüllung als Ehefrau und Mutter verweist, aber schließlich doch sehr anrührend seine Liebesbekundung erwidert. Nicht minder bewegend sind Tevjes Dialoge mit seinen widerspenstigen Töchtern, die durchweg schauspielerisch überzeugen: Nina Links, Bettina van Maria Bauer, Annika Steinkamp, die alle auch gesanglich überzeugen, sowie Alessia Wyand und Theresa Prinz. Tevje sucht auch häufig den Kontakt zu Gott, bei dem er sich über die Vernachlässigung seines verletzten Pferdes beschwert, weil er seinen Milchkarren fortan selbst ziehen muss..
All diese Dialoge sind zumeist in feine Ironie getaucht, gepaart mit anreizendem Humor, der auch in schwierigsten Situationen noch durchschimmert. Das ist eine der Stärken der exzellenten Regie von Gil Mehmert, dem eine perfekte Personenführung und insgesamt ein großer Wurf gelungen ist. Das Bühnenbild (Jens Kilian) liefert einerseits die urbane Kulisse, aber auch die Intimität des Familienlebens und der Begegnungen der Nachbarn. Die stilsicheren Kostüme hat Claudio Pohle geschaffen. Auch die einfühlsame Choreografie von Bart De Clercq fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild ein wie die präzise Lichtführung von Michael Heidinger und überzeugende und punktgenaue Auftritt des Opernchors und Leitung des bewährten Jaume Miranda.
Von dem durchgängig versiert agierenden Ensemble seien noch Juri Menke (als russischer Bräutigam, Nico Hartwig (als Student Perchik) und Algirdas Drevinskas (als allgegenwärtiger, aber raffiniert naiv wirkender Rabbi) hervorgehoben. Das Tüpfelchen auf dem i setzt Wolfgang Mertes als „Fiddler on teh roof“, der Geiger auf dem Dach (Originaltitel des Musicals) mit seinem melancholisch-wehmütigen Solo, das die -trotz aller Heiterkeit auf der Bühne – die Grundstimmung der jüdischen Gemeinde symbolisiert.
Insgesamt war es ein großer Theaterabend mit langem, nicht enden wollenden Schlussapplaus.
Kurt Bohr