Foto: Szene aus Timofej Kuljabins Inszenierung „Platonow“ © Arno Declair
Timofej Kuljabin inszeniert „Platonow“ im Grand Théâtre in Luxemburg
von Eva-Maria Reuther
Nach einem Abend wie diesem fragt man sich unwillkürlich, ob man erst die Erfahrung eines totalitären Systems machen muss, um so subtil die Kunst der Metapher zu beherrschen, wie dies Timofej Kuljabin vermag. Am Wochenende war Anton Tschechows Erstlingsdrama „Platonow“ in der Inszenierung des jungen Exilrussen im Grand Théâtre in Luxemburg als Kooperation zwischen dem Deutschen Theater Berlin und dem Luxemburger Haus zu erleben. Um es gleich zu sagen: es war ein ebenso bewegender wie tiefgründiger Abend, dazu ein unterhaltsamer. All das machte ihn zu einem glücklichen Theaterabend.
„Platonow“ ist nicht Kuljabins erste Tschechow Inszenierung. Nach einer vielbeachteten „Iwanow“ Interpretation in Moskau hat sich der Regisseur nun Tschechows umfangreichem Erstlingsdrama gewidmet, das der Autor noch als Gymnasiast schrieb. Gemeinsam mit dem russischen Dramaturgen Roman Dolzhanskiy hat Kuljabin die „Enzyklopädie des russischen Lebens“ (Tschechow) neu gefasst. Dazu wurde der Text gestrafft, ausgedünnt, Personen gestrichen und die Handlung vom Landhaus in der russischen Provinz mit ihrer dekadenten Gesellschaft und ihrem Protagonisten, dem verkrachten Dorfschullehrer Platonow in ein Altersheim für ehemalige Schauspieler verlegt. Vergessen und lethargisch warten die Bewohner darin auf den Tod. Als neuer Hausgenosse kommt der schwerkranke Platonow mit seiner Frau Sascha dorthin. Das Leben hat den einstigen Bühnenstar zum Zyniker gemacht: „Selbst Ratten können eine menschliche Visage nicht so benagen, wie es mein Leben getan hat“. Um die apathische Gemeinschaft zu revitalisieren, inszeniert sich der abgetretene, ehemals umschwärmte Bühnenheld als Don Juan und beginnt Liebesaffären mit den einstigen Schauspielerinnen Anna Petrowna, Sofia Jegorowna und Maria Jefimowna, die verliebt und mit neu erwachter Vitalität auf sein Spiel eingehen. Alle drei Frauen scheitern, als sie das Spiel in die Realität überführen wollen.
Kuljabins „Platonow“ ist eine komische Tragödie oder eine tragische Komödie – wie man will. Ihre Figuren sind Mitglieder eines Spiels, das komisch, tragisch oder auch nur eine Farce ist, die aber einen Augenblick lang Lebenskraft und Leidenschaft zurückholt. Kuljabins Setzung ist klar und intelligent, seine Bildsprache von poetischer Kraft. Als erstaunlicher Menschenkenner, der große Empathie für seine Figuren zeigt, weist sich der junge Regisseur aus. Allesamt sind seine Charaktere mehrdimensional angelegt. Sie sind anrührend wie lächerlich, artifiziell wie realistisch, klarsichtig wie verwirrt und dort am tragischsten, wo sie am komischsten sind. Eindrücklich verkörpert sie das fabelhaft aufspielende Ensemble.
Als Ort des Geschehens hat Oleg Golovka einen fahlen Rundbau auf die Bühne gestellt, dessen Innenraum Festsaal wie Seelenraum ist, in denen die neu erwachten Energien ausgelebt werden. Davor dreht sich auf der Drehbühne die öde Tristesse des Seniorenheims um sich selbst, mit ihren erledigten Träumen und vergeblichen Hoffnungen. Manchmal kommt ein Hauch Zärtlichkeit auf, wenn Sascha (Linn Reusse) den betrunkenen Platonow zudeckt oder der alte Sergej Pawlowitsch Woinitzew (Enno Trebs) seiner Frau Sofia liebevoll empfiehlt und damit auch Platonows Ziel in Worte fasst: „Lebe, solange du leben kannst“. Als Platonow ist Alexander Khuon ein heruntergekommener Charmeur in weißem Anzug und mit Schal (Kostüme Vlada Pomirkovanaya), der die Wahrheit der eigenen Person im Alkohol ertränkt und den als Liebhaber die Geister nicht mehr loslassen, die er gerufen hat. In ihrer Sehnsucht nach Liebe werden die vermeintlich Geliebten schließlich zum Opfer seines Spiels. Gedemütigt wie die einst selbstbewusste Anna (Katrin Wichmann), Sofia (Brigitte Urhausen), deren Traum vom Neuanfang mit Platonow zerbricht, und Maria (Birgit Unterweger), die Platonow verklagt hat.
Am Ende bleibt Platonow allein zurück. Der Festsaal ist dunkel, die Geliebten tot, seine Frau hat ihn verlassen. Mit seinem „Platonow“ legt Kuljabin eine Neufassung vor, die gleichermaßen nah an Tschechows Ideenlage ist wie an der Gegenwart, ohne dass der Regisseur mit Aktualitätsmarkern hantiert. Stattdessen öffnet Kuljabin dem Publikum einen weiten Assoziationsraum, nicht zuletzt hin zur aktuellen Situation in Russland. Kuljabins Platonow ist ein eindringliches, berührendes Stück über Verlorensein und gesellschaftlichen Abstieg, über die Einsamkeit des Alters, die Sehnsucht nach Liebe und Leben, und nicht zuletzt über die zuweilen unerträgliche Notwendigkeit der Illusion.
Interview
Opus Kulturmagazin sprach mit Timofej Kuljabin über seine Neuinterpretation des Dramas. Das Interview können Sie hier nachlesen.