Die Dramaturgin Lena Wontorra und ihr Kollege Sascha Hargesheimer leiten das Institut für Digitaldramatik © Foto Christian Kleiner
Theater und digitale Welt? Passt das wirklich zusammen, haben viele während des Lockdowns gezweifelt. Das Mannheimer Nationaltheater geht in die Offensive und hat das erste Institut für Digitaldramatik gegründet. Geleitet wird es von der Dramaturgin Lena Wontorra und ihrem Kollegen Sascha Hargesheimer. Die beiden Masterminds für neue Medien greifen dort Tendenzen und formale Experimente auf, die sich während der Corona-Pandemie zunächst aus der Not heraus bildeten. Wontorra erinnert sich noch gut an die ersten Versuche, als die Theater ihr Programm nicht mehr live vor Publikum präsentieren durften. „Dabei entstand schnell die Frage, welche Texte sich eigentlich dafür eignen. Hier gibt es noch viele unerforschte Bereiche.“ Denn es reiche nicht aus, einfach nur Inszenierungen zu streamen. Angebote, bei denen Videos von ursprünglich analog entstandenen Produktionen ins Netz gestellt wurden, haben kaum überzeugt. Es bedarf neuer Formate, die zum Beispiel mit den Eigenheiten der sozialen Medien spielen, wie die Mannheimer Instagram-Performance von Arthur Schnitzlers Monolog-Novelle „Fräulein Else“. Das Besondere: Die Zuschauer schlüpften in die Rolle von Followern. Diese begleiteten Else, die sich auf Drängen ihrer Eltern einem reichen Mann an den Hals werfen soll, durch den Mannheimer Hafen und in ein Hotelzimmer. Die 19-Jährige postet Outfitfotos, Selfies und feministische Sprüche. „Das hat funktioniert, weil die Hauptfigur ihre innersten und privatesten Gedanken mit dem Publikum teilt“, so Wontorra.
Am Institut für Digitaldramatik wird nun auf virtuellen und hybriden Bühnen experimentiert. Neun Stipendiatinnen und Stipendiaten arbeiten dafür seit einigen Monaten an verschiedenen Projekten. Eine von ihnen ist Zelal Yesilyurt. Sie möchte ihr kulturelles Erbe digital pflegen, wie sie bei einer öffentlich gestreamten Präsentation erläutert hat. „Meine Oma hat meinen Vater mit kurdischen Märchen gefüttert, mein Vater mich und ich füttere jetzt meinen Baby-Bot mit ihnen.“ Die Frage: Was passiert mit solchen Erzählungen, wenn sie einem Bot eingepflanzt werden? Den Text, den das Computerprogramm ausspuckt, wird die Regisseurin und Autorin dann inszenieren.
Wie verändert sich die Autorenschaft durch den Umzug des Theaters in den digitalen Raum? Einen entscheidenden Unterschied zwischen den klassischen Dramatikern und ihren Netztheaterkollegen sieht Hargesheimer vor allem darin, dass letztere das Stückformat mitberücksichtigen. „Schreibe ich für einen Bot, eine VR-Brille oder einen Social-Media-Kanal,“ so Hargesheimer.
Natürlich rüttelt die Digitaldramatik an der für unumstößlich gehaltenen Wahrheit aus über zweitausend Jahren Geschichte, dass Theater Orte sein müssen, an denen Publikum und Darstellende zu einer künstlerischen Kommunikation real zusammenkommen. Doch Hargesheimer und Wontorra sehen die Entwicklung positiv, denn das Theater könne auf diese Weise vielfältiger werden. „Eine Geschichte kann im Theatersaal, im Wohnzimmer oder am Computerbildschirm erzählt werden“, findet Wontorra.
Astrid Möslinger im OPUS Kulturmagazin Nr. 91 (Mai / Juni 2022)
10., 11. & 12.6., Online-Abschlusspräsentation der Stipendiat*innen