Foto: pixabay, rechtefrei
von Michael Kuderna
„Ich habe noch niemanden getroffen, der die Absicht grundsätzlich in Frage stellt“ – so äußerte sich die CDU-Bildungsexpertin Jutta Schmitt-Lang im saarländischen Landtag zur Einführung des neuen Pflichtfaches Informatik ab Klasse 7. Unfreiwillig offenbarte sie damit ein doppeltes Manko: die überparteiliche Begeisterung für eine weitere Aufwertung technischer Kompetenzen in den Schulen und – was noch bedenklicher ist – das Fehlen jeglicher grundsätzlicher und kontroverser Diskussionen über Bildungspolitik im allgemeinen.
So erlebte das staunende Publikum bei der Aussprache im Saar-Parlament im vergangen Juli einen seltsamen Überbietungswettbewerb. Dass überhaupt über das neue Pflichtfach kurz debattiert wurde, war nämlich ausgerechnet einem Antrag der AfD-Fraktion zu verdanken, Informatik sofort und schon ab Klasse 5 einzuführen. Dass die SPD das Vorhaben ihrer Parteifreundin und Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot als „richtig gute Neuigkeit“ wertete, war weniger verwunderlich. achdenkliche Töne – wenn auch keine Ablehnung – kamen nur von der Linken-Abgeordneten Barbara Spaniol, die ja den kritiklosen Konsens im Landtag künftig nicht mehr stören wird. „Es darf nicht so weit kommen, dass nur noch Schulfächer gefördert werden, die die Wirtschaft für wichtig und nützlich hält. Gerade in Zeiten von Fake-News-Debatten, wachsendem Hass und sinkendem Respekt für andere Meinungen wäre ein Mehr an Philosophie, Politik, Literatur, Musik und Kunst eben auch wichtig“, mahnte Spaniol.
An dieser Stelle lohnt sich ein Rückblick. Der Landtag hatte nämlich schon einmal über eine verwandte Problematik diskutiert. Der Anstoß kam auch damals von einer kleinen Oppositionspartei. Die Piraten, an die man sich (wie hoffentlich bald auch an die AfD) heute kaum noch erinnert, hatten 2014 die Einführung eines ordentlichen Schulfaches Medienkompetenz an allen weiterführenden Schulen gefordert. Alle Parteien betonten damals, es sei völlig unumstritten, dass es sich dabei um eine Schlüsselkompetenz handele. Allerdings solle sie, so die Auffassung von CDU und SPD, als Querschnittsaufgabe fächerübergreifend behandelt werden. Die wichtigsten Argumente gegen ein eigenes Schulfach lauteten: Bei Ausgliederung in ein separates Fach bestehe „die Gefahr, dass nicht ernst genommen wird, dass Medien sehr, sehr komplex in unseren Alltag integriert sind“ und außerdem habe Medienkompetenz „keine ausgeprägte fachdidaktische Tradition“ (Stefan Krutten, SPD), eine „fachintegrative, alle Fächer einbeziehende Medienbildung“ sei der bessere Weg (Gisela Rink, CDU) und die Gretchenfrage sei, „welches Fach dafür wegfallen soll“ (Klaus Kessler, Grüne).
Tatsächlich legte das Bildungsministerium 2017 ein „Landeskonzept Medienbildung an saarländischen Schulen“ vor. Für den Bereich Medienkompetenz setzt man dabei stark auf außerschulische Partner, darunter die vielfältigen Angebote der Landesmedienanstalt. 2019 folgte ein Basiscurriculum Medienbildung und informatorische Bildung für die Klassenstufen 1 bis 10. Seit 2021 liegt der Fokus auf den Vorbereitungen für das Pflichtfach und entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen für Lehrer und der Etablierung eines eigenen Lehramtsstudiengangs. Sieht man sich die Argumente aus der Landtagsdebatte 2014 an, ist eine klare Akzentverschiebung zu erkennen. Jetzt steht die „Wissenschaft von der systematischen und automatisierten Verarbeitung von Informationen“ (Ergebnisse des „ExpertInnen-Forums Informatik“) im Vordergrund, das heißt die technologische Perspektive. Gleichwohl sollten Bezüge zur gesellschaftlich-kulturellen und anwendungsbezogenen Perspektive „an geeigneten Stellen in den jeweiligen Unterrichtsfächern sowie im fachübergreifenden Unterricht vertieft werden“.
Warum aber überhaupt ein Pflichtfach Informatik, einem im Kern aus der Mathematik erwachsenen Spezialfach? Übergeordnetes Ziel, so der Wissenschaftsrat, sei „eine digitale Mündigkeit aller Bürgerinnen und Bürger“. Ob dazu tatsächlich alle Schüler zum Beispiel „Konzepte zur effizienten Lösung von Problemen mit Hilfe von Algorithmen“ (Prof. Dr. Verena Wolf) erlernen müssen, wäre doch zumindest diskussionswürdig. Konkreter werden die Verfechter des Fachs bei einigen Nebenaspekten, wozu nicht nur Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zählen. „Kinder werden durch eine informatorische Bildung bessere Einkommens- und Aufstiegschancen haben – unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Geschlecht. Damit kann der verpflichtende Informatikunterricht wesentlich zur Bildungsgerechtigkeit beitragen, den Anteil an Frauen in der IT-Branche erhöhen und den Gender-Pay-Gap reduzieren“, heißt es in den Leitlinien der ExpertInnen. Schnell wurden Weiterbildungsangebote für Lehrer aufgelegt, Programme für Quereinsteiger angekündigt und an der Universität des Saarlandes ein eigenes Lehramtsstudium Informatik eingerichtet – eine selten gewordene Chance für personellen und finanziellen Aufwuchs und langfristige Absicherung der neu gewonnen Ressourcen.
Nun gibt es wahrliche eine Flut alarmierender Untersuchungen über Defizite in der Informationskompetenz immer größerer Bevölkerungsgruppen. „Der Ton wird härter“ – so der Titel einer Veröffentlichung der Medienanstalten. Und der frühere „heute journal“-Moderator Claus Kleber mahnte, man müsse den jungen Leuten helfen, „damit sie mit der Informationsflut fertigwerden. Ohne das gehen sie unter. Und unsere Demokratie gleich mit.“ Gleichzeitig sichern sich auf globaler Ebene Unternehmen bereits einen Platz im Metaversum, setzen auf das utopische Potential virtueller Welten und ein offenes, demokratisches Cyberspace. Sollten wir nicht alles dafür tun, das Humane in die anscheinend unbegrenzten digitalen Räume mitzunehmen und einzufordern?
Angesichts dieser Herausforderungen scheint es mir gewagt, die technologische Perspektive der Digitalisierung in den Vordergrund zu stellen und darauf zu hoffen, dass die Einsicht in die zugrundeliegenden Prozesse auch maßgeblich zum kritischen Umgang befähigt. Deshalb ist die Erarbeitung von Informationskompetenz ein mindestens genauso wichtiges Bildungsziel. Um es nicht Zufällen und dem Engagement der einzelnen Lehrerinnen und Lehrer zu überlassen, müssen konkrete Wege dazu verbindlich in Lehrpläne gegossen werden. Bisher ist in diesem Zusammenhang viel zu oft von „man könnte“ die Rede. Genau darin besteht die Gefahr jeglicher „Querschnittsaufgaben“ – was nicht gebündelt und konkretisiert ist, bleibt zu einem guten Stück dem guten Willen und der Kreativität einzelner überlassen.
Deshalb: Ausgezeichnet, wenn Informationskompetenz auch in anderen Fächern und Klassenstufen behandelt wird. Zumindest als ein wichtiger Baustein muss sie aber auch im Lehrplan des anscheinend unvermeidbaren Informatik-Unterrichts verankert und als Signal auch schon im Titel dieses Fachs genannt werden – sonst startet das neue Zukunftsfach von Anfang mit einer Schlagseite und einer falschen Botschaft. Technik ohne kulturelle Kompetenzen wird die Welt nicht zukunftsfähig machen, eine Dichotomie von Technik und Kultur ist ein längst entlarvter Irrweg. Zugegeben: Über Sinn und Notwendigkeit von verpflichtendem Informatik-Unterricht und einer Paarung mit Medienkompetenz kann man sicherlich unterschiedlicher Meinung sein und für die jeweilige Position Argumente anführen. Erschreckend – und damit kommen wir auf den Ausgangspunkt zurück – ist es aber, wenn darüber gar nicht diskutiert wird. Wenn im Landtag wirklich niemand ein Projekt grundsätzlich in Frage stellt: Zeugt das von Einsicht ins Unvermeidliche oder von zeitgeistigem Einheitsbrei?
Die Herausforderungen, denen wir uns gesellschaftlich gegenüber sehen, schreien geradezu danach, wieder einmal grundsätzlich und ergebnisoffen unser Bildungs- und Schulsystem zu überdenken. Welche Basiskenntnisse soll die Schule im Pflichtunterricht vermitteln, welche gehören in Wahlfächer? Wo muss man den Fächerkanon weiterentwickeln, wo möglicherweise aufbrechen und anders gruppieren? Welche Fertigkeiten brauchen Kinder und Jugendliche jenseits von einzelnen Fächern für die Bewältigung des Lebens und werden sie ausreichend vermittelt? Und nicht zuletzt: Wie kann man wesentliche Kulturkompetenzen in der Schule – denn nur dort erreicht man noch alle Schichten – stärken?
Es ist höchste Zeit, dass sich Politik und Gesellschaft wieder mehr solchen Grundfragen zuwenden und in offenem Diskurs verhandeln. Auf anderen Politikfeldern haben wir es doch schon gelernt: Fast nichts ist alternativlos – und das gilt sogar für ein Pflichtfach Informatik.