Was liebt, was hasst er.
Genug mit Lug und Trug! Dafür Yoga und Gesang!
Jürgen Pitzer, Düsseldorf, den 1. April 2022
Es gibt diesen aktuellen mentalen Trümmerhaufen, angerichtet durch Corona und nun von Putin mit seinem imperialen sonderoperationalen Spezialalleskaputtmach-Krieg. Es sind nicht nur die Bilder, es sind die Kommentare, die Sondersendungen, die Meinungen und Stellungnahmen, die klaren und gemeinschaftlichen Beschlüsse, das permanente checken der Nachrichten, Überlegungen, was man macht, oder besser nicht, Verabredungen, die abgesagt, Telefonate, die nicht geführt werden, alles, alles kommt zusammen, und man möchte helfen, einerseits, und andererseits doch mal eine Pause haben von alledem, Freude ungeteilt genießen, so wie an den keimenden Blättern und die im Vorfrühling aufblühende Natur. Und dann kommen die Frostnächte und der Schnee, und killen die Blüten und Knospen, und die Absage der Aufführung von „Der Geizige“ von Moliere in Duisburg in der Regie von Leander Haussmann des Thalia Theaters Hamburg wegen Corona-Fällen im Ensemble bringt den bereits entworfenen Bogen von der „Schule der Lügner“ zum Musterschüler-Lügner Putin zum Einsturz und bringt einen um den ersehnten Genuss eines tollen komödiantischen Stückes mit grandiosen Schauspielern und durchaus aktuellen Bezügen.
Den Genuss vermeldet der Kritikaster stattdessen gehabt zu haben bei der Galavorstellung des Freundeskreises der Deutschen Oper am Rhein am 26. März. Das war bei der Aufführung von Verdis La Traviata. Zunächst eine überaus seltene Eloge: Auf unsere Düsseldorfer Oper! Denn das, was am vergangenen Samstag abging, in diesem mit durchgesessenen Sesseln und Stützbalken notdürftig im Betrieb gehaltenen musikalischem Kulturtempel, das war lange Zeit nicht möglich. Nach zweieinhalb Stunden Darbietung tobte das in einem voll besetzten Haus versammelten Publikum und klatschten wie entfesselt. Die Standing Ovations galten den Sängerinnen und Sängern, dem Chor und Orchester, dem immer noch hervorragend funktionierendem Bühnenbild, der einfallsreichen Regie und Führung der Sängerinnen und Sänger, dem präzise wie atemberaubend perfekt auch in schwierigsten Passagen agierenden Orchester unter dem temperamentvollen Dirigat von Antonio Fogliani, aber in erster Linie der wunderbaren Adela Zaharia als Violetta, dem bravorösen Tenor Juan Diego Florez als Alfredo sowie dem souveränen präsenten Bass Bogdan Baciu, der den Giorgio bestens verkörperte. In Wirklichkeit aber galt der Applaus der befreienden Musik, dem dramatischen Gestus, dem Schmelz der Stimmen, die von der Verdi-Oper La Traviata in die Seelen der Zuhörer und -schauer gesandt wurden und dort aufgenommen wurden wie der sprichwörtliche Regen nach der Dürre.
Natürlich war auch dieser Abend mitgeprägt durch die lange Corona-Auszeit, wie der Vorsitzende des Freundeskreises der Oper, der diese Galavorstellung mit seiner finanziellen Unterstützung ermöglichte, Prof. Dieter Vogel betonte, und auch das Kriegsgrollen in der Ukraine konnte nicht ungehört gemacht werden. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wühlte dieser Abend die Gefühle vieler auf, weil es der Aufführung wie selten gelang, die kapriöse Mischung von Lebens- und Liebessehnsucht, Schönheit und Tod so wirkmächtig auf die Bühne zu bringen. Trotz allem, auch die hinreissendste Aufführung einer Oper, die fesselndste eines Theaterstückes schafft eine eigene Wirklichkeit durch das Vorgaukeln einer solchen, also auch und gerade das Inszenesetzen ist der Kern eines Kunstwerkes, das umso eindrücklicher wirkt, je stärker wir in den Bann dieser künstlichen Welten hineingezogen werden. Gaukelei also, Lug und Trug? Mitnichten, denn idealerweise sollen wir durch Anschauung und Miterleben dazu angehalten werden, der wahren Wirklichkeit, in dem das Wahre und Gute und Schöne in eins fallen, näher zu kommen, zumindest sie aber auch als wesentlichen Teil unseres Lebens zu erkennen und als erstrebenswertes Ziel zu verfolgen.
(K)ein heiteres, feinsinniges Buch über Yoga
Allerdings sind die Wege zum Ziel oft verworren, zumal wenn sich die „Wegweiser“, also die Kunst- bzw. Wahrheitsproduzenten, im selbstgemachten Labyrinth verlaufen. So zum Beispiel der französische Autor Emmanuel Carriere in dem jüngst in Deutsch erschienen Roman „Yoga“. Der „Handlungsrahmen“ wird durch den Autor vorgegeben, der beschreibt, wie er ein Buch über Yoga schreibt, in dem er die vielen Stationen auf dem Weg zur spirituellen Vollkommenheit auf sich wirken lässt, bis die Gräuel des „Charlie-Hebdo-Attentates“ die beschauliche Meditations-Kur jäh beendet. Satt dem Luftzug des Atems durch die Nasenlöcher nachzuspüren, geht es nunmehr für den Autor darum, seine krankhaft durch Überreizung verstörte Psyche durch härtere klinische Mittel in den Griff zu bekommen. Und dabei will er uns weiss machen, dass alles, was er dabei von sich gibt, wahr ist, denn „Die Literatur ist der einzige Ort, an dem man nicht lügt.“ Zweifel daran sind erlaubt, ja geboten, seitdem die inzwischen von ihm geschiedene Ehefrau Passagen hat entfernen lassen, weil zu intim und so nicht wahrheitsgerecht aufgeschrieben. Und man sieht diesen Roman auch als den Versuch, mithilfe einer simulierten Autofiktion den Wahrheitsgehalt anderer Romane, wie die von Annie Ernaux, die die Vorlage für den jüngst erschienenen Film „Das Ereignis“ lieferte, in Zweifel zu ziehen. Vielleicht geht es aber ja auch gar nicht um die ganz große Wahrheit, sondern um den verzweifelten Ehrgeiz eines jeden Menschen, vor allem aber auch eines Künstlers: „Ich wäre gerne ein guter Mensch. Stattdessen bin ich ein labiler Narzisst, der besessen davon ist, ein grosser Schriftsteller zu sein.“ Auch dies wahrscheinlich eine augenzwinkernde Untertreibung, denn, so der Kritikaster, das Buch kann, sollte, muss man lesen!
Rom und die Folgen
Die Zeitenwende bedeutet offenbar auch, dass wir uns erneut unserer Vergangenheit widmen, bzw. ihr zuhören, genauer vielleicht als zuvor, weil die lauttönenden Wechselspiele der Moderne nicht mehr ablenken. Rom, die Stadt, aus der alles begann und endet, ein Tummelplatz für Träumer, Genießer, für Leute, die nachdenklich sind. Die zwei Ansichten, die uns zwei bemerkenswerte Autoren vermitteln, können gegensätzlicher nicht sein. Gianfranco Calligarich, der Autor des vor 60 Jahren erstmals erschienenen Buches „Der letzte Sommer in der Stadt“ beschreibt in seinem autobiographisch gefärbten Roman den Versuch eines schreibenden Menschen, sich in Rom und seiner schillernden Gesellschaft zurecht zu finden, Bindungen zu finden, Wohnung zu nehmen. Nichts davon gelingt, aber sehr wohl gelingt es dem Autor, mit lakonischer Sprache eine Stimmung wiederzugeben, in der sich die Unbehausung einnistet und alles im Ungefähren eines vergeblichen Lebens eingefangen ist, das dem berichtenden Erzähler zur endgültigen Last wird. Anders dagegen der ebenfalls nach 60 Jahren neu aufgelegten Canto-Lobgesangs, dem Buch, mit dem der inzwischen über 90jährige Paul Nizon die große Bühne der gefeierten Autoren
betritt. Ein stilistisch wie thematisch immer noch frisches Werk, dem man die Experimentierlust und den Schaffensdrang unverändert anliest. Auch dieses Buch mit ebenso autobiographischem Bezug hat seinen Schauplatz in Rom, schweift aber durchaus vorwärts und rückwärts räumlich unbegrenzt durch das vorgestellte und tatsächliche Leben eines Autors, der in Rom als Stipendiat auf dem Weg zu sich selbst gerät, zu seiner Lebenswahrheit unterwegs ist, zu deren Konstruktion er die Erfahrungsbausteine aus dem Romaufenthalt nutzt. Ein immer noch junges Buch, geschrieben mit „Ohrensprache“ (Paul Nizon), die immer noch fesselt. Super! (Paul Nizon „canto“, Suhrkamp)