Foto: 7 Minuti // Copyright: C2images pour l’Opéra national de Lorraine
von Friedrich Spangemacher
Es war ein Coup des Indendanten der Opera lyrique von Nancy, Laurent Spielmann, bei dem opernerfahrenen italienischen Komponisten Giorgio Battistelli ein neues Musiktheaterwerk in Auftrag zu geben. Battistelli schrieb seine Oper nach dem Theaterstück „7 Minuti“ von Stefano Massini, das in die Arbeitswelt versetzt. Ein Textilwerk soll an ein internationales Unternehmen verkauft werden, und es droht die Schließung. Verhindern könne man das nur, wenn alle Arbeiterinnen 7 Minuten ihrer Mittagspause opfern würde. Das Stück und die Oper mit demselben Titel führen uns mitten in die Diskussionen der Arbeiterinnen, die Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes haben. Sie haben ganz unterschiedliche biographische und kulturelle Hintergründe, die in der Gruppe zu leichten Spannungen führen. Manche sind neu, andere arbeiten schon jahrelang in der Fabrik; es gibt die Polin Agnieszka, es gibt Mahtab aus dem Iran.
Regisseur Michel Didym stellt die Grupe von 11 Frauen in eine Werkskantine,in der sich das Warten auf die Entscheidung der „Krawatten“, wie die Chefs heißen und der Abstimmungsprozess über 2 Stunden abspielt. Fast statisch wirkt das Bühnenbild, aber schon die Personenführung zeigt, wie dramatisch sich dieser Prozess bei den Protagonisten abspielt und wie explosiv die Auseinandersetzungen sein können. Was zunächst wie eine Betriebsversammlung oder ein Gewerkschaftstreffen aussieht, wird nach und nach zu einem tiefenpsychologischen und sozialen Drama. Die Arbeiterinnen legen nach und nach ihre Arbeitskittel ab und werden Individuen mit all ihrem eigenen Ausdruck und innerem Antrieb.
10 Soprane und ein Alt auf der Bühne, ein Ensemble, das zwei Stunden mit Höchstkonzentration arbeitet. Vom Parlando bis zum Belcanto ist alles gefordert — das ist eine dramaturgische Idee, die voll aufgeht. Die Musik erzählt die Geschichte, beleuchtet die Motivationen der Einzelnen und auch die sozialen und politischen Implikationen. Auf der Bühne sind 11 Individuen mit ihren eigenen Gefühlen und Geschichten, die Battistelli deutlich unterscheidet, durch ihre Art des Vortrages, aber auch durch die unterschiedliche musikalische Behandlung der Stimmen und ihrer Begleitung. Die Stimmen sind gerade im hohen und Koloraturbereich sehr gefordert, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man es hier mit der sprichwörtlichen „Italianitá“ zu tun hat. Eigentlich ist es in ganz neues Genre, das Battistelli hier erschafft; ich würde es episches Belcanto-Theater nennen. Die artifiziellen Stimmen den Personen aus dem einfachen Arbeitsvolk zu verleihen, nimmt man ihm sofort ab. Das schafft einerseits die Überhöhung der Figuren, öffnet aber auch einen tiefen Einblick in die seelischen Situationen der verschiedenen Charaktere. All das ist vorzüglich komponiert. Die Musik ist hier Spiegel der inneren Zustände. Meist kammermusikalisch angelegt, scheinen sich die 11 Rollen ins Orchester zu übertragen. Die Musik trägt die Stimmen, durchleuchtet das Innere, hat Phasen der Reflexion, selten auch Momente des äußeren Kampfes, wie in einem Marsch, der eher an Kurt Weill oder Strawinsky erinnert als an Militärmusik.
Und wie ist die Lösung? Die 11 Arbeiterinnen sollen abstimmen, ob sie dem Vorschlag der Betriebsleitung folgen oder nicht. Aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes geht das erste Abstimmen mit 10 :1 für die Zustimmung zum neuen Vertrag aus. Blanche aber, die Sprecherin, ist zutiefst überzeugt, dass das Ausbeutung ist, und sie beginnt eine neue Diskussion. Die Summe der 7 Minuten von allen Arbeitern im Monat sei erheblich. Sie rechnet vor, dass nur die Chefs, aber keine Arbeiterin davon profitieren würde, denn der gleiche Lohn sei für mehr Arbeit gesetzt. Sie weist auch darauf hin, welche Folgen solch ein Beispiel für andere Werke haben könnten.
Blanche aber versteht am Ende gut, dass Mahtab und Agnieska besondere Angst um ihren Job umtreibt. Sie unterstellen Blanche sogar ein Komplott mit den „Krawatten“. Da stellt Blanche ihr Amt als Sprecherin zur Verfügung. Bei der letzten Abstimmung geht es 5:5 aus, nur Rachel fehlt. Als sie gefragt wird, wie sie stimmt, fällt der Vorhang, bevor sie antwortet.
Das Fazit:“7 Minuti“ ist kein politisches Theater, sondern ein Drama, in das die Arbeitswelt die Menschen zwingen kann.
Phantastisch die Sängerinnen, allen voran die Altistin Milena Storti als Blanche mit einer großen Überzeugungskraft und mit ausdrucksstarker Stimme. Auch alle anderen Sängerinnen sind ohne Ausnahme vorzüglich. Das Orchester war bei dieser Partitur in seinem Element, Francesco Lanzilotta am Pult hatte die schwierig zu koordinierende Partitur in jedem Moment sicher in der Hand.
Nach anfänglichem Zögern: Jubel in der Oper am Place Stanislas bei der Uraufführung am letzten Freitag. Sehr zu empfehlen, ein Meisterwerk.
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