Ruth Reinhardt dirigiert das Dallas Symphonie Orchestra © Foto: Sylvia Elzafon
„Großes entsteht immer im Kleinen“. Es gibt Karrieren in der Musik, die ähneln sehr diesem Slogan auf den Begrüßungstafeln im Saarland. Und ganz sicher trifft diese Marketingformulierung auch auf eine 1988 in Saarbrücken geborene Dirigentin zu. Ihr Name taucht regelmäßig in den USA bei Konzerten großer Symphonieorchester auf, ihre eigene Bescheidenheit führte indes dazu, hierzulande ziemlich unbekannt zu sein: Ruth Reinhardt.
Wie wichtig es ist, dass bestimmte Personen oder Institutionen zum richtigen Zeitpunkt bei der Begabungsfindung und Persönlichkeitsbildung an der richtigen Stelle eingreifen, kann man an ihrer Vita besonders gut verfolgen. Mit 6 Jahren nimmt sie Geigenunterricht beim SR-Geiger Götz Hartmann und fügt später die Oboe hinzu – auch dieser Lehrer ist SR-Musiker, Veit Stolzenberger. Das Interesse, die Wissbegier und die Lust an der Musik gehen aber noch weiter: mit 16 Jahren weiß die junge Ruth, dass sie Dirigentin werden will, sie nimmt Unterricht bei Constantin Trinks, Kapellmeister am Saarländischen Staatstheater, wo sie schon mit 10 Jahren im Kinderchor in Giuseppe Verdis „Othello“ mitgesungen hatte. Derart infiziert komponiert sie mit 17 Jahren eine Kinderoper und führt sie unter eigener Leitung in der Region auf.
Und nun macht sie es wieder richtig, sie verlässt ihre Heimat und geht in die „weite Welt“. Nach Studien in Zürich und Leipzig führt sie der Drang, möglichst viel aufsaugen zu wollen, weiter nach New York, wo an der renommierten „Juilliard School of Music“ Chefdirigent Alan Gilbert ihr Lehrer wird. Die Anforderungen sind enorm, das Studium ist intensiv. So jagt man sie mit zwei riesigen Orchesterwerken pro Woche ruhelos durch den Orkus schwierigster romantischer Literatur, ein Training mit hohem Konditionierungswert. Später führt der Weg sie nach Dallas, wo Jaap van Zweden, der dortige Chefdirigent, sie ebenso nachhaltig, wenngleich in anderer Weise prägen wird.
Derart profund ausgebildet wundert es nicht, dass die gebürtige Saarbrückerin nach Abschluss ihrer Studien als Conducting Fellow beim Seattle Symphonie Orchestra engagiert wird. Von dort aus startet sie eine einmalig erfolgreiche Tour an die Pulte der großen amerikanischen Orchester: Detroit, Indianapolis, Baltimore, Houston, Cleveland, Portland, Santa Fe, Dallas und Los Angeles sind ihre Stationen. Und auch in Europa ist man auf sie aufmerksam geworden. Symphonieorchester in Stockholm, Malmö oder Graz laden sie ein, ebenso aber auch deutsche Renommierensembles wie das HR-Orchester Frankfurt, das DSO Berlin oder das MDR-Orchester Leipzig. Selbst wenn der Coronavirus ihr vielleicht für diesen Sommer manches Konzert verhageln sollte, um ihre Zukunft muss man bei dieser so gradlinig verlaufenden Karriere nicht bangen. Vielleicht kann man sie daher auch irgendwann einmal vor der Deutschen Radiophilharmonie oder dem Saarländischen Staatsorchester erleben. Und zwar nicht, weil sie – selten genug – eine dirigierende Frau oder eine Saarbrückerin ist, sondern weil sie offensichtlich phantastisch dirigiert und die Orchestermitglieder sie wegen ihrer Umgangsformen bei den Proben schätzen. Sicher ein Baustein für den ungewöhnlichen Bann, der sich über viele ihrer Konzerte zu legen pflegt.
Thomas Krämer im OPUS Kulturmagazin Nr. 80 (Juli / August 2020) in der Rubrik Musik