Foto: Ingo Schulze liest beim Eifel-Literatur-Festival © Eva-Maria Reuther
Ingo Schulze ist hoch angesehen als Autor und Chronist der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Beim traditionsreichen Eifel-Literatur-Festival las der Bestseller Autor aus seinem neuen Roman „Die rechtschaffenen Mörder“.
„Wer kann denn das Ende eines Buches auch nur erahnen, wenn er drangeht?“ Vilém Flussers fast ohnmächtige Frage über die Ahnungslosigkeit des Lesers hat Ingo Schulze seinem Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ vorangestellt. Eine Frage, die weit über das Literarische hinausgeht. Denn wer kann überhaupt das Ende absehen von all den Geschichten, die sich am Schluss zur Geschichte formieren und das Schicksal des Einzelnen bestimmen. So wie all jene Geschichten im Zusammenhang mit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, um die es einmal mehr im neuen Roman des aus Dresden stammenden Autors geht. Zur Lesung daraus mit anschließendem Gespräch war der Schriftsteller im Rahmen des Eifel-Literatur-Festivals in die Stadthalle nach Gerolstein gekommen. Dort wartete gespannt ein bis aus dem Saarland angereistes Publikum.
Schulzes Roman, der es auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat, ist die Geschichte des angesehenen und hochgebildeten Dresdener Antiquars Norbert Paulini, der sich in der Villa, in der er sein Geschäft betreibt, eine Art exterritoriales Reich der Bücher und des Geistes geschaffen hat. Auf dieser Insel der Seligen, zu der nur ausgewiesene Bücher-Liebhaber Zutritt haben und deren Buchbestände im Alltag der DDR Raritäten sind, herrscht der Mann im grauen Hausmeister-Kittel wie ein Alleinherrscher. Als mit der so genannten Wende Paulinis Reich aus Büchern und Bildung zerschlagen wird, weil im neuen kapitalistischen Alltag alles Ware und jederzeit verfügbares Konsumgut wird, verliert Paulini nicht nur seine Existenz. Er verliert auch mit der Vernichtung seiner Werte sein inneres Gleichgewicht und wird zum „rechten“ Reaktionär. Zunehmend entfremdet er sich von seinen Schriftstellerfreunden Schultze und dem wendigen Gräbendorf. Einzig Lisa, die Frau zwischen zwei Männern, bleibt ihm erhalten, neben einem mehr schlecht als recht laufenden Online-Antiquariat und einem ebenfalls hochgebildeten Flüchtling aus der Barbarei des Balkankriegs. Paulini und Lisa sterben bei einem Unfall in der Sächsischen Schweiz, dessen Ursache bis zum Ende des Buchs ungeklärt bleibt.
In Gerolstein las der Schriftsteller aus den drei Teilen des seltsam ungleichgewichtigen Romans. Der erste Teil des Buches, der zwei Drittel des Textes ausmacht, erzählt empathisch, aber klarsichtig und mit der für Schulze typischen feinen ironischen Distanz, die Geschichte des Antiquars. Im zweiten Teil setzt sich der Ich-Erzähler Schultze (ausdrücklich mit „tz“ aber autobiographischen Zügen), der als Lisas Liebhaber längst zum Rivalen von Paulini geworden ist, kritisch mit dem einst verehrten Vorbild auseinander. Eine Auseinandersetzung, die auch die eigene Verortung in Frage stellt. Im dritten Teil schließlich macht sich Schultzes Lektorin auf die Wahrheitssuche.
Ingo Schulzes ausgesprochen unterhaltsam zu lesender Roman reicht an Subtilität sicher nicht an frühere Werke wie etwa den großartigen Briefroman „Neue Leben“ heran. Womöglich hätte er es dann auch nicht auf die Bestsellerliste geschafft, deren Rangordnung sich am Verkauf orientiert. Schulze hat aber auch, wie dieser Abend neuerlich zeigte, nichts von einem typischen Bestsellerautor, der in einer Welt, deren literarisches Navigationsinstrument Bestsellerlisten, Long- und Shortlists sind, handlich konfektionierte Schwarz-weiß–Wahrheiten verkauft. Es ist ausgesprochen erfrischend, wenn er, befragt zu der im Buch angesprochenen „östlichen Selbstentleibung“, den Ungleichheiten in West– und Ostdeutschland oder zum Erstarken der „Rechten“ dort, die eigene Argumentation immer wieder relativiert. „Das ist natürlich alles zu kurz“, räumt er erklärend wie entschuldigend ein. Von gefährdeten und vernichteten Existenzen im Osten berichtet der Autor im Gespräch, von der Abwanderung in den Westen, von westlicher Übernahme statt gleichberechtigter Vereinigung. Die einstige solidarische Ostgemeinschaft vereinzele sich in einen neuen Regionalismus. Aber auch die Einseitigkeit des öffentlichen Diskurses kritisiert Schulze. So sei es nicht nur wichtig, sich für den Klimaschutz stark zu machen, sondern auch für die Forderung nach Abrüstung. Der Roman werde in seinem zweiten Teil angesichts der ungeklärten Todesfälle zum Krimi, hat irgendwer einmal geschrieben. Was seitdem in der Welt ist – auch in Gerolstein. Dabei ist Schulzes Mordfall nicht kriminalistisch zu lösen, eher über die Kenntnis des Tragischen. Vermeintlich rechtschaffende Mörder sind hier viele unterwegs. Nicht zuletzt sind es die politischen Verhältnisse, die auf die privaten einwirken und im schlimmsten Fall tödlich sind, das zentrale Thema in Schulzes Werk. Und schließlich ist das Buch die Geschichte von Menschen, in deren einem Leben zwei Leben – das östliche und das westliche – unversöhnbar existieren. Zwischen alle dem wirkt Lisa wie der weibliche „reine Tor“, der die Welt retten will.
Mit dem Roman habe er eine Liebeserklärung an das Buch schreiben wollen, berichtet der Autor. Von Liebe ist hier fraglos die Rede, aber wenn schon von einer, die sich „an der Wahrheit freut“ und sie erträgt, auch wenn sie bitter ist.
Ingo Schulze, „Die rechtschaffenen Mörder“, S. Fischer, 2020, 320 S., 21 Euro
Eva-Maria Reuther