Mia Morgen © Max Sand
Tufa Trier
Mia Morgan veröffentlicht Debütalbum “Fleisch”
Mit über 1 Millionen Aufrufen bei Spotify landete Mia Morgen mit ‚Waveboy’ einen Indie-Sommerhit, nun veröffentlicht sie ihr Debütalbum ‚Fleisch‘. TUFA und poppconcerts holen die gefragte Newcomerin Open Air in den TUFA Innenhof.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass “Waveboy” von Mia Morgan der überraschende Indie-Hit eines letzten normalen Sommers war. Nun veröffentlicht die Künstlerin aus Kassel mit “Fleisch” ihr Debütalbum voll düsterem Pop und abgründigen Texten.
“Gruftpop” hieß ihre erste EP, die Anfang Juli 2019 erschien und bereits damals für Aufmerksamkeit sorgte. “Waveboy” avancierte bei vielen zum heimlichen Lieblingslied und das Video zu “Es geht dir gut” entfachte eine neue Welle der Tumblr-Nostalgie – schwer zu sagen, ob Mia Morgan den Nerv der Zeit gut trifft oder es einfach selbst ist. Ebenso wie die EP wurde nun auch “Fleisch” produziert von Max Rieger, der bekannt ist als verlässliche Größe für eingängige Kantigkeit und bereits mit Künstler*innen wie Drangsal, Ilgen-Nur oder Jungstötter arbeitete. Zwischen Kassel und Berlin und zwischen diversen Lockdowns entstanden so 12 dichte, funkelnde Songs wider der schlecht gelaunten Antihaltung der deutschen Musikszene.
Auf Albumlänge zeigt sich Mia Morgan jetzt mit weniger Gruft, dafür mit mehr Pop, der sich freimütig an allen Genres bedient und überhaupt mehr von allem bietet. Mehr Höhen, mehr Tiefen, mehr Rohheit, mehr Äußerlichkeiten, mehr Innerlichkeiten, mehr Haut, mehr Fleisch. “Fleisch”, das sind schreckliche Geschichten schön erzählt – Zombies im Süßigkeitenladen und blutverschmierte Prom-Queens im Folterkeller. Die Texte zielen da hin, wo es wehtut und Morgan schont sich selbst am wenigsten in der öffentlichen Selbstoffenbarung. Ihre Sprache ist dabei stets feministisch, sexpositiv, ermächtigend und Beispiel einer neuen Generation politischer Musiker*innen, für die Pop mit Haltung kein Flex, sondern Selbstverständlichkeit ist. Es ist ein Coming-of-Age-Album geworden, das den Struggle des Erwachsenwerdens genauso thematisiert wie die langen, kalten Finger lange zurückliegender Traumata. Und es ist ein Album über’s Mädchensein in einer Welt, in der manchmal nichts Schwerer ist als die Existenz im eigenen Kopf und Körper.
Der Opener “Jennifer Check” führt musikalisch und inhaltlich direkt ein ins Morgan-Universum: flächige 80s-Synthies, ein prägnantes Piano und Mias Stimme, die geschmeidig zwischen Höhen und Tiefen changiert. Jennifer Check, die von Dämonen besessene Hauptfigur eines Horrorfilms, dient dabei als filmische Vorlage zur Selbsterkundung der eigenen Zustände: “Vielleicht bin ich untot, vielleicht bin ich depressiv, vielleicht bin ich Jennifer Check, vielleicht bin ich verliebt.” Vielleicht ist Mia Morgan auch einfach nur besonders gut darin, Metaphern zu finden, denn in das Gefühl des seltsamen Verschobenseins lässt sich jede Menge hineininterpretieren, wenn man gerade selbst drinsteckt.
Das Thema des seltsamen Jungseins zieht sich als roter Faden durch die 12 Tracks. So geht es in “Teenager” um die elende Schulzeit und quälende eigene Uncoolness, die noch bis weit ins Erwachsenenalter nachwirkt. Ein empowernder Song, der mit einem kraftvollen Chorus dieser Zeit den Stachel zieht, aber dabei nicht das erwartbare “Endlich cool”-Narrativ bedient, sondern selbstironisch feststellt: “Ich bin und bleib’ ein Clown”. Manchmal geht’s eben nicht um Triumph oder Rache, sondern das Rausschreien des Status Quo als Form der Selbstermächtigung.
In “Widerlich” beweist Mia Morgan, dass sie trotz aller düsteren Themen auf “Fleisch” den Spaß an ihrer eigenen Musik nicht vergessen hat und besingt voll ironischem Ekel die
Anziehung zu einem wirklich widerlichen Typen. Ein Song, der vermutlich besonders live seine ganze Energie entfalten können wird, poppig, tanzbar und einprägsam.
Der Titeltrack “Fleisch” fluoresziert zwischen dem störrisch-elektronischen Sound der Strophen einem hymnischen Chorus: “Allerallerbeste Freundin, frisst du dich schön an mir satt?” Ein toxische Mädchenfreundschaft, deren parasitäre Zersetzungskraft aus Nähe, Neid und jugendlicher Verlorenheit entsteht. Morgan besingt die schmalen Grenzen zwischen Liebe und lustvoller Zerfleischung aneinander. Ein Kampf, dessen Schlachtfeld die eigenen Körper sind und bei dem es am Ende zwei Verliererinnen gibt.
“Segen” ist dann der vielleicht intimste Song des Albums. Es ist eine Art Bestandsaufnahme: Wer bin ich, wie wurde ich so, wie heißt das, was mich ausmacht? Als Persönlichkeit, als Frau? Die Antwort liegt in den Extremen und Widersprüchen, die dem Titel entsprechend Segen und Fluch gleichzeitig sind, schwach und stark machen. Zwischen radikaler Selbstakzeptanz, Selbstsexualisierung und Selbstinszenierung entsteht das kontrastreiche Bild einer Frau, die zwischen ihren Polen festen Stand sucht. Getragen von einem maschinell-kühlen Beat und Morgans glasklarer Stimme entsteht ein eindringlicher Track, der mitten in die Magengrube trifft.
“Fleisch” ist vielleicht auch eine Abrechnung mit den Sünden unserer Zeit: Intensives Instagram-Stalking, negative Selbstgespräche, der zermürbende Vergleich mit der Schönheit anderer, Overthinking, Mischkonsum, toxische Beziehungen, digitale Eitelkeit, Grenzüberschreitungen, gestellte Fotos, geschönte Wahrheiten. Morgan, die zuweilen als biblisch reine Unschuld gekleidet die Bühne betritt, dirigiert die Hörer*innen durch ein Spiegelkabinett der menschlichen Makel.
Doch statt nur den Finger in die Wunden zu legen, blitzt bei Mia Morgan immer auch eine rebellische Zähigkeit und ein feministischer Trotz auf – nicht subtil zwischen den Zeilen, sondern hell wie Stadionlicht. Dass Morgan politisch und laut ist, zeigt sie insbesondere auf Social Media. Sie setzt dort auch ihre ganz eigene Ästhetik fort, ohne die “Fleisch” nicht verstanden werden kann. Die Essenz Mia Morgans steckt auch in ihren Outfits, in Captions, Emojis, Tweets und selbstgebastelten Memes. Und genau das macht sie zu einer Ausnahmeerscheinung: Die gekonnte Verknüpfung und Verschmelzung aller visueller und akustischer Möglichkeiten, sich als Künstlerin mitzuteilen.
Wer Mia Morgan hört, muss sie dementsprechend auch sehen, ihr folgen, verfolgen, welche Entwicklung gerade passiert, welche Botschaft gerade wichtig ist. Dass Musik-Konsum im Jahr 2022 längst nicht mehr nur eine Tonspur, ein Video und ein Tourplakat ist, sondern auch ein TikTok, ein Spotify-Canvas oder eine Instagram-Story beweist niemand besser als Morgan, die die Klaviatur digitaler Ausdrucksformen virtuos beherrscht und damit anderen Künstler*innen ihres Genres weit voraus ist. Das Debüt “Fleisch” ist dabei ein weiteres Element ihres Sonnensystems, in dessen Mittelpunkt die Künstlerin selbst steht.