Textkünstler und Meister im Provozieren, Rammstein sind Till Lindemann, Richard Kruspe, Oliver Riedel, Paul Landers, Christoph Schneider und Christian Lorenz © Jens Koch
CONTRA: Tabubruch um jeden Preis – Die Krawallrocker von Rammstein lassen nichts aus
Ein Mehr an Provokation geht nicht: Till Lindemanns international erfolgreiche Metal-Formation „Rammstein“, wohlgelitten auch in Deutschlands braunen Ecken, streift sich für ihr neunminütiges Cross-Over-Spektakel namens „Deutschland“ die Häftlingskleidung mit Judenstern über und lässt sich an mehreren Galgen aufknüpfen. Später in diesem Geschichts-Intermezzo werden mit schwindelerregender Schlagzahl auch noch die Schlacht im Teutoburger Wald, die deutsche Kolonialgeschichte, RAF-Terror und die SED-Zentralkomitee-Geschichte heraufbeschworen, erschießen die jüdischen Opfer die Täter in ihren SS-Uniformen. Wie wenig Respekt vor einer Opfergruppe darf man eigentlich haben, um Deutschland mit einer solch widersinnig-gefährlichen Geschichtsklitterung zu überschwemmen? Freilich, stellen kann man Rammstein nicht, die mit ihrer Horrorshow zweitausend Jahre deutscher Geschichte fleddern, angefangenen beim unerschrockenen germanischen Helden Siegfried über Reformator Martin Luther und Weltraumfahrer-Ikone Sigmund Jähn bis zu Terroristin Ulrike Meinhof. Nichts ist sakrosankt, alles geht um der Effekte und Tabubrüche willen: Die angebetete Germania, einzige waschechte Frau, verkörpert von einer farbigen Schönen, gebiert am Ende deutsche Schäferhunde. Und die deutschen Männer, „Deutschland, Deutschland über allen“ röhrend, gehen trotz aller Testosteron-Schwängerung leer aus. Der nicht zum Zuge gekommene Liebhaber Till Lindemann darf dann auch singen: „Mein Herz in Flammen, will Dich lieben und verdammen“. Um dann am Ende doch noch die Kurve zu kriegen: „Deutschland. Meine Liebe kann ich Dir nicht geben!“ Ob das die mitgrölenden Fans von Pegida, der AfD und den Identitären aber auch verstehen?
Burkhard Jellonnek
PRO: Provozieren leicht gemacht. Heute mit: RAMMSTEIN
Der Aufschrei war wieder groß, als Rammstein ihre erste Single seit Jahren („Deutschland“ – provokant!) mit einem Video-Teaser ankündigten – zu sehen waren vier Bandmitglieder als KZ-Häftlinge, am Galgen stehend (dabei trug nur Gitarrist Paul Landers einen Judenstern, die anderen trugen Abzeichen für Homosexuelle und politische Gefangene). Die deutschen Medien und Facebook-Gutmenschen stürzten sich wie Raubtiere auf dieses Leckerli: Rammstein hätten nun endgültig die Grenze des guten Geschmacks überschritten; auch der Zentralrat der Juden meldete sich mit erhobenem Zeigefinger zu Wort. Genau diese Reaktionen haben Rammstein sich erhofft – „um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, wie schnell sie oft reagiert, ohne überhaupt den Hintergrund zu kennen“, erklärt Keyboarder „Flake“ Lorenz im Interview mit dem „Rolling Stone“ (Juni 2019). In der 10-minütigen High-End-Produktion zur „Deutschland“-Single spielt die KZ-Szene nur noch eine untergeordnete Rolle. Der Clip arbeitet diverse Perioden der deutschen Geschichte ab (u.a. DDR, RAF), im Mittelpunkt steht eine farbige Germania, und mit der Zeile „Deutschland – meine Liebe kann ich dir nicht geben“ positionieren sich Rammstein erneut (!) deutlich anti-nationalistisch. Die Rechts-Thematik hält sich unter Unwissenden hartnäckig („der Neider hat es schlecht gewusst“), obwohl die Punk-Vergangenheit der Bandmitglieder für sich spricht, und sie sich schon mehrfach öffentlich von den Vorwürfen distanziert haben. O-Ton Lindemann: „Früher haben wir uns mit diesen rechten Idioten geprügelt, und das würden wir heute noch tun.“ (Rolling Stone, Dezember 2011) Potenziellen rechten Fans müsste das aktuelle Album den restlichen Wind aus den Segeln genommen haben; wenn das Publikum – so wie diesen Sommer im Münchner Olympiastadion – enthusiastisch „Ich bin Ausländer!“ skandiert, sollte jeder Nazi schnellstmöglich das Weite suchen.
Sandra Wagner
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