Vermüllter Fluss in Phnom Penh, der in den Mekong – einen der am stärksten verschmutzten Flüsse der Welt – mündet © Foto World Bank and Key Consultants Cambodia
Alle 40 Sekunden gelangt das Gewicht von etwa einer Lkw-Ladung Plastikmüll in die Ozeane. Rund zwei Drittel der Kunststoffabfälle in den Weltmeeren werden durch gerade einmal 20 Flüsse eingetragen, die meisten davon in Asien. Plastikmüll ist ein globales Problem und wer die schwimmenden Berge von Plastikflaschen, Einwegverpackungen, Tüten und anderem Müll in Gewässern einmal gesehen hat, ahnt, dass es keine einfachen, schnellen Lösungen mit Patentrezepten gibt.
Säuberungsaktionen, wie sie jüngst beispielsweise das Aachener Start-Up „everwave“ durchführte, das in Bosnien-Herzegowina Tonnen von Müll aus dem Fluss Drina fischte, der sich vor einem Wasserkraftwerk angesammelt hatte, stellen gute Lösungsansätze dar. Zum Einsatz kam ein speziell gefertigtes Müllsammelboot, das zuvor mit Kamerasensoren ausgestattet worden war, die Bilder und Videos des Mülls aufzeichneten und noch in derselben Nacht zur Auswertung an das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) schickten. Diese Daten erreichten die zuständigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DFKI-Forschungsbereiches Marine Perception während der Durchführung eines Feldversuches auf der Insel Spiekeroog im niedersächsischen Wattenmeer. Dort beflogen sie innerhalb des Projektes „APLASTIC-Q“ (Aquatic PLASTIC Litter detector and Quantifier system) zu dieser Zeit mit Drohnen ausgewählte Ausschnitte der Ostplate, ein sieben Kilometer langes, weitläufiges Dünen- und Salzwiesengebiet, das aufgrund seiner Topografie und durch bestimmte vorherrschende Windrichtungen besonders anfällig für Plastikmülleinträge ist. Bei der Befliegung detektierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Müll, der bereits längere Zeit unentdeckt im Sand lag. Bei einer spontanen Müllsammelaktion am darauffolgenden Tag führten sie Schülerinnen und Schüler gezielt zu den Fundorten und halfen, den Unrat zu entsorgen.
Asien, Bosnien und Spiekeroog liegen regional und auch vom Müllaufkommen weit auseinander. Aber sie haben auch etwas gemeinsam: In allen drei genannten Regionen zeichnet das DFKI mittels Hightech-Kamerasensoren an Flugzeugen, Drohnen oder fest installiert z. B. unter Brücken multispektrale Bilddaten von Müll auf, also zusätzlich auch für das menschliche Auge nicht sichtbare Daten im Infrarotbereich. Diese Bilddaten werden mit Hilfe von künstlichen, durch das Zusammenwirken von Mensch und Maschine trainierten sogenannten neuronalen Netzwerken analysiert, so dass sowohl die Menge des Mülls bestimmt werden kann als auch dessen Zusammensetzung. Künstliche Intelligenz (KI) sei vor allem eine Querschnittstechnologie, ein Werkzeug, geschaffen, um Muster in komplexen Daten zu erkennen, aus diesen Daten zu lernen und spezifische Ziele durch flexible Anpassung zu erreichen, erläutert Professor Oliver Zielinski, Leiter des Forschungsbereiches Marine Perception im DFKI-Labor Niedersachsen: „Als Schlüsseltechnologie birgt KI ein enormes Potential zur Bewältigung aktueller ökologischer Herausforderungen wie Klimaschutz, Energiewende und Ressourcenschonung.“
Um das Potential des DFKI auf diesen Gebieten zu bündeln, wurde im vergangenen Jahr das Kompetenzzentrum „KI für Umwelt und Nachhaltigkeit“, kurz DFKI4planet, gegründet. Unter der Leitung von Zielinski engagieren sich in DFKI4planet zahlreiche Forschungsbereiche des DFKI über alle Standorte hinweg, von Bremen, Oldenburg und Osnabrück über Berlin bis hin nach Kaiserslautern und Saarbrücken. Die Liste der Anwendungsgebiete sei lang und doch stehe man erst am Anfang, sagt der Oldenburger Meeresphysiker Zielinski. Keine technische Innovation habe sich in den vergangenen zehn Jahren so rasant entwickelt wie dieses Teilgebiet der Informatik. „Wir wissen, dass weder das Meer noch andere Naturräume unendlich sind, sondern dass die Erde ein geschlossenes System ist und alle ihre Ressourcen begrenzt sind. Wer mit diesen knappen Ressourcen langfristig seine Existenz gestalten möchte, der muss sich in seinem Verbrauch in dem Korridor bewegen, den das System Erde zur Verfügung stellt. Kurzum, wir müssen nachhaltiger agieren – ökologisch, ökonomisch und sozial.“
DFKI4planet trägt dem Vorhaben, verantwortungsvolle KI-Methoden für den Menschen UND für seine Umwelt zu entwickeln, in besonderer Weise Rechnung. Das anfangs erwähnte, von der Weltbank finanzierte Projekt „APLASTIC-Q“ zählt – neben anderen – zu jenen DFKI-Forschungsprojekten, in denen Lösungen für mehr Umweltschutz und Nachhaltigkeit entwickelt werden. „APLASTIC-Q“ erstreckt sich mittlerweile auf Kambodscha, Myanmar, Vietnam und die Philippinen. An allen Standorten wird – soweit es die politische Situation zulässt – mit fest installierten Kameras an Brücken und mit Drohnen Müll detektiert und mit Hilfe von KI-Methoden analysiert. Detaillierte Angaben über einzelne Müllbestandteile wie Becher, Lebensmittelverpackungen oder Transportbehälter helfen den lokalen Behörden, die Quellen des Plastikmülls zu identifizieren und Gegenmaßnahmen einzuleiten. „Closing the Loop“ nennt sich die dazu passende Initiative der Vereinten Nationen, die durch technologische Innovationen die südostasiatischen ASEAN-Staaten in die Lage versetzen möchte, sich des Problems vermüllter Flüsse, Küsten und Meere anzunehmen.
Verstärkt durch die Covid-19-Krise, stellen Beobachter aktuell einen Trend zu mehr Resilienz statt Effizienz fest. Im existentiellen Sinne dieser Anpassungsfähigkeit an die Gegebenheiten und gewonnenen Widerstandskraft sowie vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen gelte es, das Werkzeug KI in der Zukunft möglichst effektiv für den Schutz von Umwelt und Klima einzusetzen, sagt Oliver Zielinski: „Dann kann Künstliche Intelligenz in der Tat ein Stück dazu beitragen, den Planeten zu retten.“
Prof. Dr. Oliver Zielinski ist Leiter des Kompetenzzentrums „KI für Umwelt und Nachhaltigkeit“, DFKI4planet, im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Außerdem ist er Leiter des Forschungsbereiches Marine Perception im DFKI-Labor Niedersachsen, wo er ebenfalls wissenschaftlicher Direktor ist. Zielinski leitet zudem das Zentrum für Marine Sensorik (ZfMarS) am Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) der Universität Oldenburg. 1999 schloss er seine Promotion in Physik an der Universität Oldenburg ab.
Simone Wiegand im OPUS Kulturmagazin Nr. 86 (Juli / August 2021) zum Schwerpunkt „Meer“