
Schwesternschaft, 2019, Öl auf Leinwand, 140 x 190 cm © Chantal Maquet
In ihren Genrebildern erforscht die in Luxemburg geborene und in Hamburg lebende Chantal Maquet kultur- und milieuspezifische Zustände und interessiert sich dabei für individuelle und kollektive Verhaltensmuster, die sie in Gruppenbildnissen und Einzelporträts festhält. Ihre Investigationen in Rollenzuschreibungen entstammen dem Bedürfnis, Deutungsmuster zu hinterfragen und unbekümmert Übergangenes aufzudecken. Dabei erweitert sie den zunächst auf die eigene Betroffenheit konzentrierten Antrieb auf brisante gesellschaftliche Themen. Ihre künstlerische Motivation wirkt wie das Seziermesser einer Chirurgin – es öffnet Einblicke in Klischees und regt zu einer intensiven Begegnung mit der eigenen und der kollektiven Vergangenheit an.
Die Vorlagen zu den Gemälden stammen von Schnappschüssen aus Familienalben und von Flohmärkten – den Archiven des kollektiven Gedächtnisses – und rufen oftmals vertraute Erfahrungswelten oder persönlich erlebte Szenen ins Gedächtnis. Farblich verfremdet decken diese quasi-fotografischen Dokumentationen soziale Problemzonen auf: zersplitterte Familien, Förmlichkeiten, Ressentiments, Scheinheiligkeit, Vorurteile, Sexismus, Verlogenheit, unfaire Machtverhältnisse – das ganze Spektrum von Unstimmigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen wird im Gesichtsausdruck und noch deutlicher in der Körperhaltung der Dargestellten evident.
Die Künstlerin widmet sich jedoch nicht nur den Abgründen zwischenmenschlicher Befindlichkeiten. Das Gemälde „Schwesternschaft“ zeigt eine Gemeinschaft von Krankenschwestern in einem Spital nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gehört zu einer Reihe von Gemälden, in denen die Malerin die Psychologie des Individuums in seinen sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen untersucht. Dreißig Frauen, locker über eine Treppe verteilt, bilden trotz der stark individuellen Charakterisierung der einzelnen Figuren eine Gruppe, die sich durch eine verblüffende Zusammengehörigkeit, ja Einheit, auszeichnet. Diese ruhig lächelnden Krankenschwestern scheinen in einer Schicksalsgemeinschaft aufzugehen, die sie durch den gemeinsamen Dienst am Menschen und an der Menschlichkeit verbindet.
Ihre ebenso engagierte wie ästhetisch anspruchsvolle Malerei hat Chantal Maquet zuletzt mit Szenen aus dem Kongo motivisch erweitert und formal als oktogonale Panorama-Installation konzipiert, wo die Besucher mittels einer Geräuschkulisse in ein afrikanisches Dorf eintauchen. Diese Rauminstallation wird thematisch mit einem Vorstoß in das Medium der Filmkunst ergänzt, in dem die Künstlerin Zeugnisse sehr direkter und persönlicher Begegnungen von europäischen Weißen mit dem Alltag in der belgischen Kolonie in den 1950er Jahren verarbeitet. Mit diesem aus Filmaufnahmen ihrer Großmutter zusammengeschnittenen Video hebt Chantal Maquet das privat Erlebte auf eine politische Ebene der kollektiven Geschichte und der historischen Schuld. Das monumentale Format verleiht der Arbeit zusätzliche Aktualität und Brisanz und unterstreicht das Engagement der Künstlerin, das Thema Kolonialismus in die Gegenwart zu holen.
Stefanie Zutter im OPUS Kulturmagazin Nr. 88 (Nov. / Dez. 2021)