Der explodierte Kernreaktor in von Tschernobyl © Christian Krinninger
Die Gegenwart befindet sich in einem bemerkenswerten Zustand. Just gerade noch berauscht von der Machbarkeit technologischer Naturbeherrschung, bekommen wir Schnappatmung, wenn die technologischen Versprechungen an der Faktizität des Wirklichen zerbrechen. Vieles ist machbar, doch nicht alles im Griff. Und immer wieder in neuen Dimensionen. Nicht nur bezogen auf die Schlagschatten längst vergangener Zeiten, von denen wir ernstlich glauben, dass sie uns nichts mehr zu sagen hätten. Deren Katastrophen doch nicht unsere seien, weil wir davon ausgehen, dass wir sie mit unserem Know-how und ein paar Innovationen hätten meistern können.
Man kann die Welt aus der Perspektive des Geburtsjahrgangs 1975 betrachten. Und sieht fünf Stationen zunehmender existentieller Verunsicherung. Der Jahrgang ist nicht willkürlich, denn das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland – also das „arithmetische Mittel des Alters ihrer Mitglieder“ – liegt bei 45 Jahren.
Die Generation 1975 erlebte im Alter von 11 Jahren die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl und für viele ist sie eine Kindheitserinnerung. An den Tagen nach dem 26.4.1986, bzw. nachdem die Welt von der Katastrophe erfahren hatte, änderte sich die Wahrnehmung der Umwelt. Es regnete, die Wolke war radioaktiv, das Wasser nicht mehr nur nass, sondern kontaminiert, nicht lebensbedrohlich, aber gesundheitsgefährdend. Die Sandkästen wurden abgedeckt, die Spielplätze geschlossen, der Aufenthalt im Freien reduziert. Im Nachgang lernte die Bevölkerung, wie entscheidend die Region war, aus der ein Lebensmittel kam – ganz unabhängig von bioorganischer Zertifizierung. So war die Treibhaustomate potentiell unverstrahlt, also gesünder als die pestizidfreie Biotomate vom Bodensee. Pilze sollten nicht mehr gegessen, Heidelbeeren im Wald nicht mehr gesammelt werden. Unsere Sinne reichen eben nicht aus, um jede Gefahr zu identifizieren. Die heimischen Lebensmittel standen unter einem Kontaminationsvorbehalt. Jeder Biss in jeden Apfel eine Gefahr.
Drei Jahre später fiel die Mauer in Berlin, die Grenze zwischen den deutschen Staaten, der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West. Die Wende war eine historische Zäsur. Und wieder war für alle Zeitpunkt und Verlauf überraschend. Statistisch hoch unwahrscheinlich, ein Schwarzer Schwan. Das Ergebnis allerdings positiv. Kulturell machten die Bürger auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs eine einschneidende Erfahrung. Ein Regime kann über Nacht implodieren, ein Staat verschwinden, die Weltordnung kann sich quasi instantan auflösen. Gewissheit ist nur ein Wort. Stabilität eine Illusion.
Der Angriff der Islamisten markierte mit dem 11. September 2001 den Beginn des 21. Jahrhunderts. Flugzeuge wurden zu Waffen, manche Demokratien zu Folterknechten. Der konfessionelle Konflikt war nicht mehr theologisch, sondern dominierte die Welt als Kriegspolitik. Spätestens seit den Anschlägen in Madrid, London und Paris siedelte das Misstrauen im Alltag und in der Begegnung mit muslimischen Mitbürgern. Hinter jedem Kopftuch und unter jedem weiten Umhang konnte eine Bombe vermutet werden. Jedes Gegenüber ein potentieller Selbstmordattentäter. Gift für das Miteinander der Kulturen.
Am Montag den 15. September 2008 kollabierte das Weltfinanzsystem. „Krise“ wurde das Wort der Stunde. Die Insolvenz einer Investmentbank schockierte den Kapitalmarkt und im Dominoeffekt die sogenannte Realwirtschaft. Aktienkurse und Immobilienpreise kollabierten und ruinierten Altersvorsorgepläne über Nacht. Armut kam zurück, viele Menschen in den USA wurden arbeits- und obdachlos. Die Beherrschbarkeit der finanziellen Risiken hatte sich als trügerisch erwiesen, die Akteure als betrügerisch und die Bankiers nannte man plötzlich Banksters. Der Wert des Geldes schien brüchig.
COVID-19 markiert das aktuelle Kapitel der nachhaltigen Verunsicherung. Ein Virus, der sich auf der Welt ausbreitet, Hunderttausende infiziert, Tausende tötet und Millionen in ihre Wohnungen einsperrt, die Wirtschaft neutralisiert, die Produktion halbiert, die Handelsketten unterbricht, die Börsen in schwarze Handelstage treibt. Kein Medikament, das hilft. Nur Verhalten, das sich ändern muss. Schütz´ Dich selbst, dann schützt Du andere. Nicht kuscheln! Sich nicht treffen. Bleiben Sie zu Hause. Schluss mit Party. Abstand ist die neue Nähe und Social Distancing wird das Wort des Jahres. Der Mensch wird sich zum Feind. Der Alltag ist in der Großen Pause.
Und nun? Wäre es an der Zeit über unsere Präferenzen nachzudenken. Nicht nur feuilletonistisch, sondern ökonomisch, ökologisch, international und emotional. Werden wir das tun, nur weil wir müssen? Die Hoffnung bleibt. Bedenkenswert sind Aussagen von Hannah Arendt, die im Dezember 1975 gestorben ist. In ihrem posthum erschienen Buch über „Das Urteilen“: „Ich glaube nicht, daß wir die Situation, in der wir uns seit dem 17. Jahrhundert befinden, auf irgendeine endgültige Weise stabilisieren können… Wir würden uns um all dies nicht zu kümmern brauchen, wenn die Metaphysik und dieses ganze Wertegeschäft nicht so heruntergekommen wären.“
Hannah Arendt könnte man eine pessimistische Position unterstellen. Aber sie war überaus belesen und lebensklug und also sollte man ihren Arbeitsauftrag endlich und ernsthaft annehmen. Unser Leben und unser Wirtschaften beruhen auf Annahmen, die der Wirklichkeit nicht standhalten, die uns immer wieder entweder als naiv oder als verantwortungslos demaskieren. Was müssen unsere Prioritäten sein? Und was sind wir gewillt zu tun?
Reinhard Karger im OPUS Kulturmagazin Nr. 79 (Mai/Juni 2020) im Schwerpunkt „Nachhaltigkeit“.
Reinhard Karger, M.A., seit 2010 Unternehmenssprecher, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, DFKI, wurde im März 2018 zu einem der 100 Fellows des Kompetenzzentrums für Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes ernannt.