Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Goethe in der Campagna, 1787 © gemeinfrei
„Des Hexameters Maß mit fingernder Hand“ zählte einst in der Hitze der römischen Sommernacht der sinnenfreudige Goethe „leise“ auf den nackten Rücken der Geliebten. Das waren noch Zeiten, als sich Bildung und Lust derart zärtlich zusammenfanden. Doch wir schweifen ab. Schließlich soll hier vordringlich vom Sommer und der Lust daran die Rede sein. Der Sommer ist die Zeit, die uns quasi aus der Zeit nimmt. Die Zeit scheint stillzustehen, zwischen der vielversprechenden drängenden Aufbruchsstimmung des Frühlings und dem Herbst mit seinen Zeichen der unausweichlichen Vergänglichkeit. Eine Zwischenzeit, in der noch einmal alles möglich ist, der Rausch, die Ekstase, die Opulenz der Farben, die ungezügelte Lust am Leben. Kaum einer hat solchen Rausch eindringlicher dargestellt als Hermann Hesse in seiner Novelle „Klingsors letzter Sommer“. Aber nicht nur das. Der Sommer macht uns frei. Frei von der Routine und den Verpflichtungen des Alltags, wenn wir Urlaub haben. Er befreit uns aus der Enge der Häuser hinaus in die Gärten und die Natur. Und wenn wir unterwegs sind in fremde Länder und ferne Kulturen weckt er in uns die alte Abenteuerlust und jenen Freiheitsdrang, den wir in den Zwängen unserer alltäglichen Verhältnisse oft längst erstickt haben. Und wenn alles gut läuft, kommen wir zurück nach Hause, mit dem Geruch vom Meer in der Nase, dem Wind in den Haaren und dem Gefühl von Sand unter den nackten Füßen. Oder wir sind noch immer umfangen von der Stille der Berge oder dem Rauschen der Wälder. Wir kommen zurück mit leuchtenden Augen und der Weite der Welt im Herzen und einem neu aufgefüllten Depot an Energie und Hoffnung. Der Sommer ist die Zeit unbeschwerter Lust, in der die Welt zum Arkadien wird. Nur manchmal, wenn das Land mit den verbrannten Feldern und dem verdörrten Gras unter der Last der Hitze stöhnt oder in Gewitternächten die Blitze den Himmel hell machen und der Sturm heult und der Regen aufs Dach prasselt, erinnern wir uns, dass auch der Sommer mit seiner unbändigen Lust nur gestundete Zeit ist, vor den Herbststürmen und der Mühsal des Winters. Wie alles im Leben haben auch die Sommertage ihre ganz eigene Dramaturgie und ihren eigenen Klang mit ihren taufrischen Morgen und dem gleißenden Licht des Mittags, dessen Hitze uns zur Siesta aus dem Licht in die Kühle des Hauses hinter geschlossene Läden vertreibt oder in schattige Höfe. Wer aber draußen bleibt, wird sich einen Schatten spendenden Baum suchen. Das ist die Stunde des Fauns. Eine ganz eigene Melodie haben die Abende, die übergehen in die endlosen Sommernächte, mit dem Zirpen der Grillen und dem Gelächter der Nachtschwärmer. Nächte, die das Leben zum Traum machen, aus dem uns erst das Morgenrot weckt. Der Sommer führt uns zurück zur Natur, zu der dort draußen, wie zu der dort drinnen, wo wir vielleicht im eigenen Innern einen längst vergessenen Sommer wiederentdecken. Unseren Eltern und Großeltern war die regenerierende Kraft des Sommers wohl bewusst. Man fuhr nicht in Urlaub oder Ferien. Wem es möglich war, der fuhr in die „Sommerfrische“ ans Meer, in die Berge oder ins eigene Landhaus, auf jeden Fall fort aus der naturfernen städtischen Zivilisation und ihren Zwängen. Was Wunder, dass der Sommer seit jeher auch Dichter, Schriftsteller und Dramatiker beschäftigt hat. Von der „hellen Wolke Pracht“ und dem unendlichen Sommer-Sternenhimmel schwärmte Friedlich Hölderlin sommertrunken. Ein paar hundert Jahre später empfahl Joachim Ringelnatz sich ins sommerliche Gras zu legen und sich aus eben dieser weißen Wolkenpracht ein „Wölkchen“ zu „zupfen“. Nicht jeder kehrt allerdings erfrischt aus der sommerlichen Auszeit zurück. Der vielleicht berühmteste literarische Aufbruch in die Sommerfrische ist der des Fürsten Salina aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“. Mit seiner Familie bricht der Fürst aus seinem Stadtpalais in Palermo auf in seine Sommerresidenz, einem Landschloss im Süden Siziliens. Dort auf dem Land scheinen die Tage unbeschwert und die Welt in Ordnung, bis die politischen Wirren des italienischen Risorgimento auch Salinas Familie und ihre Landgesellschaft erreichen und die Ahnungen des aufgeklärten Fürsten vom Ende der alten feudalen Ordnung Gewissheit werden. Eine bissige, ernüchternde „Trilogie der Sommerfrische“ hat Carlo Goldoni in seiner gleichlautenden Komödie verfasst, in der sich Turbulenz und Melancholie verbinden und das Wissen um die Unfähigkeit zur Freiheit. „Wir bleiben in der Heimat, die wir können“, schrieb dereinst ein Dichter. Und genau das tut auch Goldonis Dramenpersonal, wenn es zum Ende der Sommerfrische in seine alten Verhältnisse zurückkehrt, mit seinen unerledigten Leidenschaften und verborgenen Sehnsüchten. Auch Maxim Gorkis „Sommergäste“ schaffen es nicht, aus der Freiheit des Sommers aufzubrechen in eine neue Freiheit des Lebens und des Geistes. Ebenso führt in Anton Tschechows Drama „Die Möwe“ der sommerliche Aufenthalt auf einem Landgut statt in die Freiheit zur Desillusionierung und Ernüchterung.
Die Sommernacht ist die Zeit der Träumer. Mit ihrer poetischen Kraft und ihrer Lust kannte sich niemand besser aus als der große Poet und Menschenkenner William Shakespeare. Sein wunderbarer „Sommernachtstraum“ ist erfüllt von berückenden Stimmen, von geheimnisvollem Zauber, koboldhafter Narretei, Liebesschwüren, Sinnestäuschungen und Maskeraden. Dass die lustvollen Träume der Sommernächte Träume bleiben und als Trugbild zerbrechen, wenn man sie ans Tageslicht zerrt und in den Alltag retten will, war dem genialen Großmeister aus Stratford-upon-Avon wohl bewusst. „Wenn sie erwachen ist, was sie betrogen, wie Träum’ und eitle Nachtgebild’ entflogen“, lässt er seinen Elfenkönig Oberon eben in jenem „Sommernachtstraum“ klarstellen.
„It`s summer, fuck problems“ – was in zeitgeistiger Diktion unlängst auf einem Plakat zu lesen war, ist nicht sonderlich delikat formuliert, dafür auf den Punkt. Wer Sommerlust genießen will, muss sich frei machen und die Zeit der sommerlichen Freiheit nutzen, allerdings nicht in hektischer Betriebsamkeit. Wir dürfen einfach nur sein, mit unserer ganzen vielfältigen Lust in einer Zeit, die still steht und uns für einen Augenblick an die Leichtigkeit des Seins glauben macht. Solcherart von Sommerlust erfüllt, ist man gut gerüstet für neue Herausforderungen, für Herbststürme und stille Winternächte. Der nächste Winter kommt schließlich bestimmt.
Eva-Maria Reuther