Innenwand des Gestapo-Lagers Neue Bremm mit Gedenktafeln © Foto: B. Kieselbach, 2004
von Burkhard Jellonnek
Das Lamento über das Aussterben der Zeitzeugen ist Wasser auf die Mühlen der Anhänger der Schlussstrich-Fraktion. Die aktuelle Diskussion um die Unangemessenheit des Begriffes Erinnerungsarbeit lenkt von der Kernproblematik ab, ähnlich wie die Debatte, ob die Mordtaten der europäischen Kolonialmächte in Afrika nicht mit der Einzigartigkeit des Zivilisationsbruchs des Dritten Reiches gleichgesetzt werden können. Aber wie sollen sich junge Menschen in unseren Tagen an die Orte der NS-Verbrechen erinnern, die sie gar nicht erlebt haben? Wir dürfen eben nicht müde werden, unseren Heranwachsenden die Geschichten von Stigmatisierung und Ausgrenzung, von Vertreibung und Ermordung in der NS-Zeit zu erzählen. Denn auch nach dem Abtreten des letzten Überlebenden wird es uns in der Zukunft nicht an Quellen aus der damaligen Zeit fehlen. Schon heute sind die Berichte der Überlebenden so umfänglich, dass man Jahre bräuchte, sie alle in einer Endlosschleife zu sehen. Hinzu kommen Filmmaterialien vom historischen Originaldokument „Jud Süß“ bis hin zur „Wannseekonferenz“. Und, und, und.
Gedenkstättenarbeit gelingt, wenn sie an authentischen Orten die Verfolgungserfahrungen der Opfer erzählt und die Zusammenhänge offenlegt, wie der millionenfache Zivilisationsbruch mit der Vernichtung der Juden und anderer Minderheiten vor aller Augen geschehen konnte. Wichtig ist dabei die bis heute verstörende Erkenntnis, dass nicht eine Führungsclique verbrecherischer Nationalsozialisten um Hitler, Göring, Goebbels allein verantwortlich ware und dass sich die Verbrechen nicht allein im fernen Auschwitz oder Dachau abspielten, sondern vor der eigenen Haustür. Also auch im gesamten Saargebiet, im Gestapo-Lager Neue Bremm ebenso wie in den Zwangsarbeiterlagern in Völklingen und Etzenhofen. Der Mainstream von damals hieß Volksgemeinschaft. Unsere Vorfahren in der Nazizeit waren zumeist keine Widerstandskämpfer.
Bei der Gedenkstättenarbeit geht es am Ende um mehr als nur historische Aufarbeitung. Wenn wir wollen, dass Schüler*innen sich dieser wichtigen Fragestellung öffnen, dann müssen wir gemeinsam mit ihnen erarbeiten, was die Thematik mit ihrem Leben heute zu tun hat. Und man erkennt sehr schnell, dass bei aller Vorbildlichkeit unserer jahrzehntelangen Anstrengungen um die Aufarbeitung Themen wie Rassismus im Alltag oder auch Homophobie ihnen leider nicht absolut fremd sind und wir gerade deshalb Jugendliche mit Migrationserfahrungen intensiver einbeziehen müssen. Das Argument, Hitler war keiner von uns, hilft wenig weiter angesichts der zunehmenden Europäisierung des Themas, das ansteckende Strahlkraft weit über den Kontinent hinaus entfachte. Und wenn wir diesen Brückenschlag wagen, sind wir von der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit unserer Vorfahrengeneration schnell bei den Vorurteilen gegen Sinti und Roma oder gegen queere Menschen heutzutage. Und leider – wir hätten den heute zunehmenden Antisemitismus mit Anschlägen wie in Halle vor zwanzig Jahren nicht für möglich gehalten – werden immer wieder die alten Muster bemüht, speisen sich aktuelle Fake News aus antisemitischen Quellen. So verstanden, ist Gedenkstättenarbeit ein wichtiger Baustein unserer Bemühungen um Demokratiebildung und für die Stärkung weltweit gültiger Menschenrechte. Wie schnell sie unter die Räder kommen konnten, zeigt uns der rasante Übergang von der demokratischen Weimarer Republik zur Diktatur des NS-Staates, sehen wir heute aber auch in aktuellen Staatsgebilden um uns herum, wie dünn das Eis der Zivilisation ist. Wir müssen unserer Gesellschaft die Verletzlichkeit unserer Demokratie, aber auch die Empathie für jeden einzelnen Mitmenschen vor Augen halten.
Wo könnte ein besserer Ort dafür sein als auf der Gedenkstätte Gestapo-Lager Neue Bremm, der nach der corona-bedingten Flaute zu einem lebendigen Zentrum der Gedenkarbeit ausgebaut werden sollte? Die Initiative Neue Bremm bereitet in enger Zusammenarbeit mit der Landesarbeitsgemeinschaft Erinnerungsarbeit gerade einen Entwurf für einen zeitgemäßen und dringend benötigten Infopavillon vor, der Schulklassen wie Gruppen der außerschulischen Jugendarbeit einen attraktiven, auch digitalen Anforderungen gerecht werdenden Lernort vorhält. Das sind wir den Opfern des Dritten Reiches, aber auch unserer Demokratie schuldig.
Dr. Burkhard Jellonnek wurde 1989 mit der ersten wissenschaftlichen Arbeit zum Thema Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich promoviert und gründete 1998 mit Dr. Kurt Bohr die Initiative Neue Bremm.