Immer mehr Menschen suchen ihren Traumpartner via Onlinedating © Sandra Aline Wagner
Existiert die Vorstellung von ‚wahrer Liebe‘ noch in Zeiten von Onlinedating? Unverbindlicher Sex via Dating-Apps ist gang und gäbe, die Hemmungen schwinden aufgrund der Enttabuisierung von Sex in der zeitgenössischen Gesellschaft – dennoch hält sich das Klischee der ‚wahren Liebe‘ hartnäckig, denn es verspricht die Erfüllung eines perfekten Lebens, das ohne den passenden Partner nicht erreicht werden kann. Obwohl es sich bei der romantischen Liebe um ein komplexes, gesellschaftlich konstruiertes Ideal handelt, hält gerade die Generation der Millennials an dem Mythos fest. Ihre Suche nach der ‚wahren Liebe‘ wird umso verbissener, als in Zeiten virtueller Selbstdarstellung der Druck, ein erfolgreiches Leben in all seinen Facetten zu leben, besonders hoch ist. Die Veränderungen allgemein akzeptierter Vorstellungen von Liebe und Romantik, die mit dem Buchdruck begannen, verschärfen sich zunehmend seit der Einführung des Internets. Die Entkörperlichung der direkten Kommunikation in Chats und Dating-Portalen spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Unfähigkeit, althergebrachte, starre Konzepte von Ehe und Liebe der neuen dynamischen Gesellschaft der Onlinekultur anzupassen.
Das Internet ermöglicht nicht nur oberflächliche Sex-Dates, sondern auch romantische Beziehungen zwischen Menschen, die sich nie persönlich getroffen haben. Das liegt vor allem daran, dass Menschen sich im Schutze der Anonymität des Internets bereitwilliger öffnen, ehrlicher und direkter sind als in der Face-to-Face-Kommunikation. Weiterhin reduziert die Anonymität im Netz aber auch das Verantwortungsgefühl, man kann für Unwahrheiten und verletzendes Verhalten kaum belangt werden. Onlinekommunikation, so der Philosoph Aaron Ben Ze’ev, dient dazu, mit Beziehungs- und Umgangsformen zu experimentieren, um daraus für unsere realen Beziehungen zu lernen. Dabei seien die Onlinekontakte nicht weniger real für die Handelnden als ihre Offlinekontakte: Der Cyberspace ist, trotz aller Virtualität, ein Teil der Realität und kann aus diesem Grund nicht als Gegensatz der Realität betrachtet werden. Folglich sind Onlinebeziehungen auch reale Beziehungen. Da es bei der Onlinekommunikation jedoch an einer physischen Basis fehlt, liegt größeres Gewicht auf Intellekt und Schreibfertigkeit, um eine emotionale Intimität herzustellen. Die Soziologin Eva Illouz spricht in diesem Zusammenhang von einem „imaginativen Stil“, der durch Chatforen und Online-Dating gefördert werde. Dabei werden Begegnungen entkörperlicht und textualisiert. Das Internet als neues Medium führt die ohnehin schon manipulierten Erwartungen an unsere Liebesbeziehungen auf eine neue Ebene.
Wo die traditionelle romantische Einbildungskraft im Körper wurzelte und auf vergangene körperliche Erfahrungen und Begegnungen aufbaute, basiert die Onlinevorstellung auf sprachlichem Austausch und textueller Information. Durch die physische Distanz fallen auch spontane intuitive Reaktionen und Gefühle weg, da Informationen zunächst in Ruhe überdacht und Antworten zeitlich verzögert gegeben werden können. Die romantische Begegnung im Internet richtet sich nach den Kommunikationscodes, die von populären Büchern und Filmen vorgegeben werden; vertraute Medien halten das Skript für den Online-Flirt bereit. Durch Codes und körperliche Abwesenheit kann man sich dem Onlinepartner auf eine optimierte Weise präsentieren, und auch umgekehrt erfahren wir von ihm/ihr nur die Informationen, die er/sie preisgeben will. Dies erlaubt eine Idealisierung des Onlinepartners. Die Einbildungskraft intensiviert die Gefühle, die für den Internet-Flirtpartner empfunden werden – es handelt sich sozusagen um „virtuelle Gefühle“. Es scheint, als ob intensive Emotionen nur noch als vom Körper losgelöst empfunden werden können – Gefühle, die sich nicht auf einen körperlich anwesenden Partner beziehen, sondern die durch Identifikation mit fiktionalen Figuren entstehen, oder durch code-gesteuerte körperlose Kommunikation im Internet mit realen Personen imaginiert werden. Emotionen, die in der direkten körperlichen Interaktion mit romantischen Partnern gefühlt werden, erreichen selten die Intensität der virtuellen Gefühle.
Gemeinhin herrschen in der zeitgenössischen Onlinekultur Vorstellungen, die einerseits dem von Medien und Internet popularisierten Liebesmythos widersprechen, andererseits jedoch auch von diesem Mythos gefördert werden. In jedem Fall sehnen sich die Teilnehmer der Onlinekultur nach der Erfüllung des Konstrukts der ‚wahren Liebe‘. Die ‚romantische Liebe‘ ist zu einem Klischee verkommen, auf das die Millennials weiterhin hoffen, obwohl – oder gerade, weil – sie in der schnelllebigen Online-Gesellschaft erfahren, dass schicksalhafte Liebe nur in Filmen und Romanen zu finden ist. Eva Illouz bringt das Dilemma der Onlinekultur auf den Punkt: „Das überwältigende Gefühl der Einzigartigkeit, das einst bezeichnend für das Gefühl der Liebe war, ist in der schieren Masse potentieller Partner untergegangen.“ Das Begehren in Bezug auf reale Partner wird durch die große Auswahlmöglichkeit des Internets gedämpft, das Begehren in Bezug auf die Vorstellungskraft hingegen wird durch die Entstehung von indirekten Onlinebeziehungen gestärkt und intensiviert.
Sandra Aline Wagner im OPUS Kulturmagazin Nr. 91 (Mai / Juni) zum Schwerpunktthema „Lust“