Wilhelm Gloeden, Auch ich in Arkadien © Gemeinfrei, Wikipedia
Es war die große Feier der Knabenliebe und der Lust: Es war in Griechenland, Mitte der 70er Jahre – vor untergehender Sonne und mit Beschallung klassischer Musik. Die Mentoren saßen auf der Sonnenterrasse und am Strand waren die nackten Jünglinge, die sich später zu den Erwachsenen begaben, und dann wurde es intimer. Organisator solcher Reisen war der Musiklehrer Wolfgang Held, die Jünglinge waren seine Schüler aus der reformpädagogisch orientierten Odenwaldschule, längst bekannt auch als Zentrum des Missbrauchs. Held begegnete den Schamgefühlen der Schüler ideologisch, „indem er die historische Tradition der ‚Knabenliebe‘ betonte und die transgenerationale Bindung als … nur Eingeweihten zugängliches Kulturgut symbolisch überhöhte“. So Jens Brachmann in seinem Buch „Tatort Odenwaldschule“. Zugleich warnte Held vor möglichen strafrechtlichen Sanktionen und der Gefährdung des selbstgeschaffenen Idylls bei Verrätern. Brachmann nennt das die „perfide Strategie“ der Manipulation.
Wolfgang Held war nach Jens Brachmann einer der Haupttäter in der Odenwaldschule. In seiner ‚Familie‘ – so wurde die Wohneinheit genannt – waren sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung. (s. Brachmann)
Held war wohl selbst Opfer eines Missbrauchs – von seinem Adoptivvater Wolfgang Fortner, den er schon in gemeinsamen Tagen bei den Musikaktivitäten der Hitlerjugend kennengelernt hatte. Fortner hatte ihn in den 50er Jahren adoptiert, um mit ihm ein eheähnliches Leben führen zu können. Fortner hatte ihn für einen Job als Musiklehrer vorgeschlagen, auch wenn Held weder einen akademischen Abschluss noch irgendeine pädagogische Prüfung absolviert hatte. Das Wort Fortners, der damals zu den Koryphäen der Neuen Musik im Nachkriegsdeutschland gehörte, und zu dem alle namhaften jungen Komponisten pilgerten, allein hatte gereicht. Held sorgte auch dafür, dass seine Schüler Fortner zugeführt wurden. Alan Posener in der „Welt“: „Die schönsten unter seinen Schützlingen brachte der Ästhet zu Treffen mit Gleichgesinnten in der Heidelberger Villa seines Gönners, des Komponisten Wolfgang Fortner. ‚Auch die Gäste hatten dann ihre Freude an uns‘, sagt ein ehemaliger Schüler.“ Fortner ging aber auch selbst auf Jagd. Peter Michael Hamel in einem Brief an den Autor: „Der Sohn unseres Griechischlehrers Steinbrenner … war dabei, als ich dann Fortner mit Knollnase kennenlernte. Die ganze Zeit hat er mich angesehen, ich dachte er wäre davon beeindruckt, dass ich als 14-Jähriger schon komponierte … Dann lud er mich zum Unterricht in die Odenwaldschule ein. Später sagte der junge Steinbrenner: Da gehst du nicht hin, der ist wie euer Präfekt.“ Es war also schon früh klar, dass es diese Seilschaft von Vater und Adoptivsohn in Sachen Missbrauch gegeben hat. Der Missbrauch ist in den offiziellen Biografien Fortners nie aufgetaucht; ebenso wurde seine Mitgliedschaft in der NSDAP verschwiegen.
Er möchte die Vergangenheit ruhen lassen, hat er seinen Studenten gesagt: „Soweit bekannt, haben die Studierenden der Musikhochschule Freiburg dem Ruhebedürfnis Fortners entsprochen“, so Frieder Reininghaus in seiner neuen Rihm-Biografie. Fortner hatte Spielmusiken für die Hitlerjugend komponiert, Fest- und Feierkantaten sowie zahlreiche Chöre auf Texte des NS-Spitzenlyrikers Hans Baumann.
Fortner wurde als Mitläufer entnazifiziert und in der Nachkriegszeit gefeiert. Seinen Stil hatte er schnell angepasst und sich als Neutöner ein neues Kleid verschafft, der so viele junge Komponisten in den Bann zog. Er wurde hochgeehrt in den Akademien der Künste und mit dem großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik ausgezeichnet. Als er 1987 starb, feierte die Journaille ihn und ging mit keinem Wort weder auf Fortners Nazizeit noch auf die Missbrauchsfälle ein.
Friedrich Spangemacher im OPUS Kulturmagazin Nr. 91 (Mai / Juni 2022) zum Schwerpunkt „Lust“