Im Videospiel „The Sinking City“ wird die Stadt Oakmont von Cthulhu heimgesucht © Sandra Wagner
Cthulhu ist in aller Munde: Die Kreatur mit dem unaussprechlichen Namen begegnet uns auf T-Shirts und Tassen, in Memes, als knuddeliges Stofftier oder auch in Form einer Schimaske mit Tentakelbart. Erfunden wurde Cthulhu vom amerikanischen Schriftsteller Howard Phillips Lovecraft (1890-1937). Lovecraft ist bekannt als Erfinder der Weird Fiction – er selbst war auch ein seltsamer Zeitgenosse, der Zeit seines Lebens nur wenig Geld mit seinen Erzählungen verdiente. Der Kult um seinen Cthulhumythos entstand erst posthum, dank seiner Autorenkollegen August Derleth, Clark Ashton Smith, Robert E. Howard und vielen mehr. Lovecraft unterhielt enge Brieffreundschaften mit den Schriftstellern, und ermutigte sie aktiv, sein Pantheon an monströsen Göttern in ihren Geschichten aufzugreifen.
So entstand eine Erzählwelt rund um Cthulhu und Co, die sich auch nach Lovecrafts Tod weiterentwickelte und so auch zeitgenössische Kunstschaffende wie Neil Gaiman, Ridley Scott oder Stephen King inspirierte. Zentral in Lovecrafts Erzählwelt sind die kosmischen Götter, genannt die Großen Alten, die das Universum beherrschen – auf der Erde finden sich Spuren dieser Gottheiten, doch die Menschheit ist sich dessen nicht bewusst. Sobald Lovecrafts Protagonisten einer solchen monströsen Entität begegnen, oder auch nur von ihr erfahren und Nachforschungen anstellen, werden sie gelähmt von Angst, vom Wahnsinn heimgesucht. Die typische Lovecraft-Erzählung endet mit dem Tod all derjenigen, die mit den Großen Alten, ihren Abgesandten oder Kultanhängern in Berührung kamen.
So auch in Lovecrafts berühmtester Erzählung, „Cthulhus Ruf“ (1928). In der Rahmenhandlung untersucht der Protagonist Thurston Dokumente, die ihm sein verstorbener Großonkel hinterlassen hat. Dabei findet er heraus, dass der Große Alte Cthulhu in einem todesähnlichen Schlaf in der versunkenen Stadt R’lyeh in den Tiefen des pazifischen Ozeans liegt. Cthulhu, der als monströse Erscheinung mit Klauen, Flügeln und einem Bart aus Tentakeln beschrieben wird, hat Anhänger in der ganzen Welt. Und diese stellen sicher, dass sich das Wissen um Cthulhu nicht verbreitet – sie ermorden alle, die Cthulhu und seinem Kult auf die Spur kommen. Thurston entdeckt, dass R’lyeh 1925 durch ein schweres Erdbeben wieder an die Meeresoberfläche gestiegen ist. Die Crew des Schiffsfahrers Gustaf Johansen ist damals auf die Stadt im Pazifik gestoßen und hat dabei versehentlich den schlafenden Cthulhu erweckt – die Folge waren weltweite Massenpaniken und Aufstände, Menschen litten an Visionen und Träumen, die vom Großen Alten ausgingen. Nach einer Woche versank die Stadt wieder dank eines schweren Sturms im Meer, und Cthulhu fiel wieder in seinen Todesschlaf. Das Chaos nahm (zumindest vorerst) ein Ende.
Lovecrafts Erzählstrukturen verdeutlichen, dass der Mensch im Universum nur ein Staubkorn ist, unbedeutend. Die Großen Alten interessiert es nicht, ob die Menschheit lebt oder stirbt. Dieser Lovecraft’sche Posthumanismus spricht die Generationen nach der Jahrtausendwende besonders an – vor allem in den letzten 20 Jahren wurde das Ausmaß der Umweltzerstörung durch den Menschen deutlich, extreme Wetterphänomene häufen sich. In „Cthulhus Ruf“ sind es Naturkatastrophen, die den monströsen Gott aus den Tiefen des Meeres emporbringen. Erdbeben, Stürmen, Überflutungen steht der Mensch ebenso machtlos gegenüber wie den Großen Alten. Cthulhu und Co werden im zeitgenössischen Kontext zu Symbolen des Klimawandels.
Der Gedanke der Naturkatastrophe wird auch im cthulhuesken Videospiel „The Sinking City“ (2019) aufgegriffen: Obwohl das Spiel nicht direkt „Cthulhus Ruf“ nacherzählt, ist die Spielewelt in Lovecrafts Universum angesetzt. Die Küstenstadt Oakmont, Massachusetts, wird von einer mysteriösen Überflutung heimgesucht. Der Bostoner Privatdetektiv Reed reist nach Oakmont, um den Visionen auf die Spur zu kommen, die zahlreiche Menschen plagen. In dem Küstenort begegnet Reed den seltsamen Bewohnern, unter denen sich auch die Innsmouther befinden – eine Referenz zu Lovecrafts Erzählung „Schatten über Innsmouth“. Die Innsmouther sind Fischmenschen, die in Oakmont Zuflucht suchen, nachdem ihr Heimatort durch eine Naturkatastrophe komplett zerstört wurde. Willkommen sind die Fischhybriden nicht, und auch Reed als Ortsfremder stößt mehrfach auf Abweisung. „The Sinking City“ ist das erste Videospiel, das offen Lovecrafts Rassismus thematisiert und vor Spielbeginn darauf hinweist, dass dieser Aspekt im Spiel berücksichtigt wurde, dies aber nicht den Ansichten der Designer entspräche. Damit reiht sich „The Sinking City“, ebenso wie die HBO-Serie „Lovecraft Country“, in die aktuelle Debatte um Lovecrafts rassistische Untertöne ein, die das literarische Erbe des Autors kritisch reflektiert. In „The Sinking City“ werden jedoch nicht nur die Themen des Klimawandels und die fragwürdigen Ansichten Lovecrafts verarbeitet, sondern auch die narrativen Elemente aus den literarischen Vorlagen gamifiziert: Als Spieler spielt man den Protagonisten Reed, der im Laufe des Spiels von Visionen heimgesucht wird. Je mehr er über die Vorgänge in Oakmont herausfindet, desto wahnsinniger wird er. Wenn er eine Vision hat, sinkt das Barometer für geistige Gesundheit drastisch, und der Spieler selbst ist machtlos. Nur mit Mühe kann man den Protagonisten bewegen – die Machtlosigkeit Reeds wird auf den Spieler selbst übertragen. Dieser symbolische Kontrollverlust verdeutlicht einmal mehr die Hilflosigkeit des Menschen im Angesichte der Großen Alten, der Naturkatastrophen, des Klimawandels.
Sandra Wagner im OPUS Kulturmagazin Nr. 86 (Juli / Aug. 2021)