François-Marie Arouet (Voltaire), Porträt von Nicolas de Largillière (nach 1724/1725 entstanden) © gemeinfrei
von Klaus Bernarding
I m p f e n o d e r s c h i m p f e n ?
In unserer freiheitlich-demokratische Republik war bisher in der (Corona-)Lage zu dulden und hinzunehmen, was das regierende Berlin sich einfallen ließ. Eine satte Mehrheit hatte die ersten Beschränkungen ohne Murren oder Schimpfen mitgemacht: Wir saßen im selben Boot und kauten am selben Stück Not. Jetzt, während der Zweiten Welle, hat sich die Lage verschärft und mit ihr die Sprache. Das darin ausgedrückte Unbehagen äußert sich zusehends und zuhörends in den Beschimpfungen und Bedrohungen derer, die nicht der Meinung ihrer Gruppe sind. An der Herstellung und Belieferung des Impfstoffs hat sich ein neuer Streit entzündet. Angeblich sollen nur bis fünf Prozent der Bevölkerung eine Impfung ablehnen. Die Übrigen bemühten sich um einen Termin: lieber be-impfen als be-schimpfen? Besser: Beides. Vacciner, insulter, pester! Albert Camus könnte eine digitale Ergänzung zu seinem Roman (?) „La Peste“ abliefern. Aber er geriet im Jahre 1960, neben seinem Verleger Gallimard im offenen Sportwagen sitzend, in eine tödliche Baumfalle…
Lange Zeit davor hatte sich sein Schriftsteller-Ahne Jean-Marie Arouet, bekannt unter dem Namen Voltaire, mit dem Impfen und der Herden-Immunität befasst. Dies im Jahr 1733, als er von seinem dreijährigen Londoner Exil 1730 nach Paris zurückgekehrt war und dort seine „Lettres anglaises ou Lettres philosophiques“ (1733) veröffentlicht hatte. Die „Briefe“ machten negative Schlagzeilen und Voltaire musste sich in die Provinz zurückziehen, Er tat es, indem er in das leerstehende Schloss in Cirey-sur-Blaise an der Grenze zu Lothringen gelegen umzog; aber nicht allein, sondern mit der jungen und intelligenten Emilie du Châtelet, deren Ehemann, einem ältlichen toleranten Grand Chevalier, das Schloss gehörte. In diesen „Briefen“ spricht er von der „Insel der Vernunft“, der ewigen Rivalin England, die im Denken, Handeln und den demokratischen Traditionen eine Avantgarde gegenüber dem Frankreich Ludwig XV. darstelle. Im Elften Brief berichtet Voltaire über die „Windpocken“, la petite vérole, ihre Einführung und Bekämpfung: „Man lästert im christlichen Europa heimlich über die Engländer, sie seien verrückt oder wahnsinnig: verrückt, weil sie auf ihre Kinder die Windpocken übertragen, damit sie diese nicht bekommen; wahnsinnig, weil sie aus Herzensgüte ihren Kindern mit Aussicht auf ein sicheres Leiden eine scheußliche Krankheit vermitteln.
Ihrerseits sagen nun die Engländer, die übrigen Europäer seien unnatürlich feige, weil sie fürchteten, ihren Kindern das kleinste Leid anzutun; unnatürlich ganz besonders, weil sie ihre Kinder der Gefahr aussetzen, eines Tages an Windpocken zu sterben. Um beurteilen zu können, wer recht hat in diesem Streit, erzähle ich die Geschichte dieser großartigen ‚Einführung der Windpocken‘. Die Frauen aus Kirgistan (Circassie) im Nordwesten des Kaukasus mit der Hauptstadt Sotchi am Schwarzen Meer – so Voltaire – pflegen seit unvordenklichen Zeiten den Brauch, ihren Kindern, ab dem Alter von sechs Monaten, die Windpocken zu übertragen, indem sie an deren Arm einen Einstich vornehmen, um darin eine Pustel einzuführen, die sie zuvor sorgfältig einem anderen Kind entnommen haben. Das wirkt wie Hefe in einem Teig. Sie gärt (fermentiert) darin und entfaltet massenhaft die Eigenschaften (Antikörper) im Blut, von denen sie geprägt wurde. Die Pusteln des Kindes, dem man diese künstlichen Windpocken gespritzt hat, dienen dazu, dieselbe Krankheit an andere zu übertragen. Das ist ein fast beständiger Durchlauf in Kirgistan. Wenn es einmal bedauerlicherweise an Windpocken im Lande mangelt, befindet man sich in derselben misslichen Lage wie in einem schlechten Erntejahr…“
Und noch ein anderer Aspekt erscheint Voltaire wichtig: „Die Kirgistaner sind arm und ihre Töchter sind schön. Mit ihnen treiben sie einen schwunghaften Handel und beliefern etwa den Harem des Sultans und anderen, die reich genug sind, sie zu kaufen und dieser kostbaren Ware einen Unterhalt zu bieten. Sie ziehen diese Mädchen in allen Ehren auf, damit sie lernen, Tänze voller Lüsternheit und Sanftmut aufzuführen und bei den von ihnen verachteten Herren mit eindeutigen Kunststückchen die Sex-Gier zu wecken. Diese armen Kreaturen wiederholen Tag für Tag ihre Lektion mit ihrer Mutter, wie unsere kleinen Mädchen ihren Katechismus herunterbeten, ohne davon irgendwas zu verstehen…“ Aber Voltaire, einer der ersten Globalisten, belässt es nicht dabei und fährt fort: „Im Übrigen passiert es oft, dass ein Vater oder eine Mutter sich ihrer Hoffnung beraubt sieht, obwohl sie sich alle Mühe gaben, ihren Kindern eine gute Erziehung angedeihen zu lassen. Die Windpocken breiten sich in der Familie aus. Eine Tochter stirbt daran, eine andere verliert ein Auge, eine dritte bekommt eine knorpelige Nase. Diese armen Leute sind ohne Einkünfte ruiniert. Und oft, wenn die Windpocken als Epidemie auftreten, wird der Handel für mehrere Jahre unterbrochen, was eine nennenswerte Verringerung des Bestands in den persischen und türkischen Serails bedeutete…“
Voltaire erwähnte, dass eine englische Diplomatin unter König Georg I (um 1700), Frau de Wortley-Montaigu (Diplomaten-Gattin in Konstantinopel), die glücklich verlaufene Pocken-Impfung an ihrem neugeborenen Sohn später in England propagiert hatte. Bis dahin gab es dort Versuche mit einem Impfstoff aus Kuhpocken, der auch bei Menschen erfolgreich angewandt wurde. Das fanden die Franzosen jedoch als erniedrigend und „viehisch“ – ah, la vache! (s.a. vaccin frz., vacca, Kuh, lat.) Was uns die moderne Bio-Technik und eine naturwissenschaftlich geprägte Kanzlerin Angela Merkel ersparen haben. Falls es zu einer Massenimpfung kommen sollte. Bis dahin hat England wiederum die Führung übernommen, unter Prime Minister Boris Johnson.
Klaus Bernarding