Großes Haus, Saarländisches Staatstheater © Kaufhold
Wer dieser Tage das letzte Konzert der Berliner Philharmoniker mit Dimitri Shostakovichs 9. Sinfonie erlebte, der hatte nicht nur angesichts der durchlöcherten Stuhlreihen selbst am Bildschirm das Gefühl, einer Trauerfeier beizuwohnen. Es war ja auch ein Trauerfall. Handelte es sich doch um das finale Konzert des Orchesters vor dem neuerlichen Lockdown. Einem in seiner Systematik kaum plausiblen so genannten Teil- Lockdown, von dem auch sämtliche Kultureinrichtungen wie Theater, Philharmonien, Museen und Galerien betroffen sind. Deren Schließung ist aus vielerlei Gründen nicht nachvollziehbar, wo doch weit frequentiertere und vom Publikumsverkehr viel weniger durchsichtige Einrichtungen wie der Einzelhandel und die Kaufhäuser offen bleiben. Das Besucheraufkommen von Theatern und den anderen oben genannten Einrichtungen ist dagegen streng auf einen Bruchteil der üblichen Kapazitäten begrenzt und zudem absolut transparent. Wer eine Karte erwirbt, muss stets auch seine Kontaktdaten hinterlassen. Tatsache ist, dass bisher kein einziger Fall einer Ansteckung in einem Museum, in einem Theater oder in einem Konzertsaal nachgewiesen wurde. Alle Kultureinrichtungen haben inzwischen strenge Hygienekonzepte entwickelt, bis hin zur Abschaffung einer gemeinsamen Garderobe und eines strikten Sanitärreglements. In den Sälen selbst gähnt die Leere zwischen den auf den verordneten Abstand gehaltenen Besuchern.
Disziplin sei in diesen Tagen von den Bürgern gefordert, mahnen zu Recht Politiker allerorts. Wo aber ist besser Disziplin zu üben, als in den Theater-und Konzertsälen, wo das Publikum oft ohne Pause über längere Zeit sitzt, streng den Blick nach vorne gerichtet, ohne die Möglichkeit zu sprechen oder sich vom Platz zu bewegen, einzig konzentriert auf das Bühnengeschehen. Soviel Disziplin ist nicht mal in der Schule gefordert. Husten während der Aufführung ist verpönt. Das war übrigens schon in „normalen“ Zeiten so. Konzerthäuser wie die Kölner Philharmonie verteilen daher vorsorglich Hustenbonbons an der Garderobe. Kommen und Gehen ist ausschließlich mit Mundschutz erlaubt. Aber nicht nur das Publikum wird diszipliniert: auch alle Mitarbeiter der Häuser sind strengen Hygienevorschriften unterworfen. Jede Produktion hat ihre Hygienebeauftragten, die für die Einhaltung der Bestimmungen verantwortlich sind. Bei den Proben wird regelmäßig getestet. Abstand und Beschränkung des Bühnenpersonals bestimmen die Ästhetik der Corona-Zeit. Auch die Museen sind mit ihren strikten Zugangs-und Besucherregelungen als pandemische Hotspots ungeeignet. Völlig unverständlich ist die Schließung der Galerien, wenn der Einzelhandel geöffnet bleibt. Im Regelwerk der Seuchenverhütung werden Theater, Museen und Konzerte offensichtlich unter Freizeiteinrichtungen einsortiert, so wie Schwimmbäder und Thermen, die auch von den Schließungen betroffen sind, obwohl sie ebenfalls längst stringente Hygienekonzepte praktizieren und fraglos der physischen wie mentalen Gesundheit dienen. Unbestritten ist, dass Kulturveranstaltungen üblicherweise in der Freizeit besucht werden. Als Orte der Bildung, der Reflexion, der Welt- und Selbsterfahrung gehen Theater, Museen und Konzertsäle in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung allerdings weit über Unterhaltungs- und Freizeitangebote hinaus.
Auch die Milliardenumsätze der Kulturwirtschaft, deren Einbrechen bekanntlich vor allem die freien Künstler und privaten Betreiber und Veranstalter hart trifft, erfassen die Wertschöpfung der Kultur für das Gemeinwesen nur anteilig. Eine Wertschöpfung, die sich nicht abschließend beziffern lässt und dennoch existentiell und in hohem Maße systemrelevant ist. Die einzigartige deutsche Landschaft öffentlicher Kultureinrichtungen ist unmissverständlicher Ausdruck solcher Systemrelevanz. In diesen Zeiten fehle uns die Kultur besonders, wird Kulturministerin Monika Grütters in der Presse zitiert. Wohl wahr. Statt Theater und Kultureinrichtungen zu schließen, sollten sich Politiker deshalb schnellstmöglich auf den gesellschaftlichen Zugewinn kultureller Praxis und Erfahrung besinnen. In diesen Zeiten der Pandemie sind demokratische Freiheiten notwendigerweise eingeschränkt. In der Kunst gewinnen Bürger ihre Freiheit zurück. Wer im virtuellen Raum der Kunst geistig und emotional die Welt ausschreitet, muss sich nicht um Reise- oder Zugangsbeschränkungen kümmern, keine Begegnung fürchten. Statt Isolation erlebt sich der Besucher von Theater und Konzerten als Teil einer Gemeinschaft, die ihm auch der größte Flatscreen nicht bieten kann. Aber nicht nur das: Wer der Bühnenerzählung folgt und im dramatischen Konflikt die Welt und ihre widersprüchlichen Verhältnisse reflektiert, braucht sich nicht auf der Straße am unreflektierten Krawall zu beteiligen und widersteht besser agitatorischer Verführung und kruden Verschwörungstheorien. Auch der Besuch von Museen ist in diesen Zeiten hilfreich. In ihrem kulturellen Erbe und ihren Kunstbeständen stellt sich die Welt mit gelassener Selbstverständlichkeit als ein Ort permanenten Wandels und wechselnder Perspektiven dar. Eine Einsicht, die in diesen Zeiten der Verunsicherung tröstlich ist und zur Bewältigung künftiger Probleme unverzichtbar. Bleibt noch die Musik, die seit jeher ganz ohne Worte Menschen verbindet. Statt Schließung sollte sich die Politik dem Beispiel Milo Raus anschließen. „Gehen Sie ins Theater und gehen Sie ins Museum“ empfahl der Schweizer Regisseur dieser Tage seinen Landsleuten als fiktiver eidgenössischer Bundespräsident. Ein völlig falsches Signal ist es, den Kultureinrichtungen stattdessen Etatkürzungen anzukündigen, wie dies unlängst in Bamberg geschah.
Eva-Maria Reuther
Peter Schuh says
Ich halte die Kunst-Pausen, die wir gerade erleben, für notwendig. Gleichzeitig sehne ich den Tag herbei, an dem der Besuch von Museum, Konzert und Theater wieder mit Gespräch, Gedankenaustausch und Begegnung verbunden ist. Die individuelle Relevanz sei damit nachgewiesen. Was die Systemrelevanz von Kunst in der Pandemie angeht, bin ich eher skeptisch. Dass den Künstlern, die jetzt in existentiellen Nöten sind, durch verlässliche Transfers geholfen werden muss, steht auf einem anderen Blatt.
Dr. Hans-Joachim Tascher says
Vielleicht wird Hobbes „Leviathan“ Wirklichkeit in Form einer „Gesundheitsdiktatur“ mit Chip im Arm. Die Regelungen, die über den persönlichen zu erbringenden Eigenschutz hinusgehen, erscheinen zunehmend als unangebracht und dem Alarmismus geschuldet oder dient andern Zielen. Schon stehen neue Viren in den Startlöchern und Millionen Tiere müssen „gekeult“ werden… horribile dictu!
Gabriele Lohberg says
Wie wahr! Mir aus der Seele gesprochen! Chapeau Eva-Maria!