Promise von tanzmainz, choreographiert von Sharon Eval aus Israel © Andreas Etter, Festival Perspectives
Das muss man den Perspectives schon lassen! Da winkt alle Welt gelangweilt ab, wenn vom digitalen Bühnenerlebnis am Rechner die Rede ist, und da haut Festivalchefin Sylvie Hamard mit „Möwe.live“ abermals ein virtuelles Theatererlebnis heraus, dass es dem analogen Bühnenfreund die Sprache verschlägt. Nach „werther.live“ hat das Theaterkollektiv „punktlive“ erneut einen Abend auf das Empfangsgerät gebracht, der an innerer Spannung nicht zu übertreffen war. Tschechows Klassiker einer gelangweilten Intelligenzia wird in die Jetztzeit übertragen: das Publikum ist live dabei auf den Rechnern von Kostja, seiner geliebten Nina und seinem Kumpel Mascha. Wir sehen, wie sie Sprachnachrichten und Urlaubsfotos verschicken und gelangweilt durch die Facebook- und Instagram-Welten scrollen. Das Drama kennt man schon von Tschechow: Am Ende sind die Beziehungen kaputt und der Protagonist Kostja nimmt sich das Leben. Man ist als Zuschauer nah dran und doch ob des Nicht-Gesagten zwischen den Figuren ein wenig überfordert von den Ereignissen.
Perspectives will diesen Schwung auch mit weiteren Theater-Angeboten im Mai aufnehmen, der dann mit der 44. Festivalausgabe vom 2. bis 11.6. wieder in das Bühnenspektakel münden soll. Das Publikum will man zurückholen, in große und kleine Säle, auch zu Outdoor-Veranstaltungen. „Covid hat das Zuschauerverhalten verändert,“ erläutert Festivalchefin Sylvie Hamard. „Karten werden erst auf den letzten Drücker gekauft. Wir werden deshalb sehr konzentriert unsere Werbe-Aktivitäten starten“, ergänzt Presse-Chefin Marion Touze. Den Nerv des Publikums wolle man treffen, auch mal auf Sprache verzichten und mit Zirkus und Tanz mit non-verbalen Angeboten bei der Zielgruppe punkten.
Für eine fulminante Eröffnung am 2.6. im Saarbrücker E-Werk wird sicherlich die Compagnie XY mit „Möbius“ sorgen: 15 Akrobaten mit überragenden Sprungtechniken, die sie bereits in dem Dokumentarfilm „Der Schwarm“ gezeigt haben. Und mit „FIQ!“ im Saarländischen Staatstheater wurde ein Zirkus eingeladen, der neue Publikumsschichten für den Bühnentempel gewinnen soll. Spannend!
Trotzdem spielt auch das Sprechtheater, wie es sich für ein deutsch-französisches Bühnentreffen gehört, eine wichtige Rolle. Mit „Markus&Markus“ und ihrem Dokumentartheater „Die Brieffreundschaft“ kommen alte Bekannte. Diesmal haben die beiden Performer den Kontakt zu Frauen gesucht, die lebenslänglich in US-Gefängnissen sitzen.
Ungewöhnlich nicht nur vom Titel ist der Theaterabend „De la sexualité des orchidées“. Vordergründig geht es bei dem Monolog mit der Schauspielerin Sofia Teillet vom „L’ Amicale“ nur um Blumen, doch schnell wird die Parabel auf die Beziehung zwischen Frauen und Männern klar. Ein schräger und zugleich fulminanter Abend, den man ebenso empfehlen kann wie den Tanzabend „Promise“ der israelischen Choreographin Sharon Eyal im Saarlouiser „Theater am Ring“, die mit dem Mainzer Tanzensemble unterwegs ist. Diese Perspectives sollte man sich nicht entgehen lassen!
Burkhard Jellonnek im OPUS Kulturmagazin Nr. 91 (Mai / Juni 2022)