Papst Leo X, spektakulär irre verkörpert von Sunnyi Melles in „Luther“ vor der Wormser Domkulisse.als Papst Leo X © David Baltzer, Nibelungenfestspiele Worms
„Hier stehe ich und kann nicht anders!“ Der berühmte Ausspruch des Reformators Martin Luther vor dem Wormser Dom vor genau 500 Jahren war dem erfolgsverwöhnten Intendanten Nico Hofmann einen Ausbruch aus dem gewohnten Nibelungen-Schema wert: Luther stand diesmal auf dem Programm der diesjährigen durch Pandemie und Hochwasser geschrumpften Nibelungenfestspiele. Mit dem Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss hatte der bekannte Filmproduzent denn auch gleich eine literarische Edelfeder um die Bühnenfassung gebeten und mit Sunnyi Melles und Jürgen Tarrach der ungarischen Regie-Entdeckung Ildikó Gáspár zwei filmbekannte Zugpferde beigegeben.
Überraschung des Abends war bei diesem Dreieinhalb-Stünder die Abwesenheit des ob der blass-Verkäufe den Papst wie die katholische Kirche bekämpfenden Titelhelden. Aber Luthers 95 Thesen hatten längst durch die Erfindung des Buchdrucks die Runde gemacht, zumal die katholischen Potentaten keinen Fettnapf ausließen, um sich beim gläubigen Volk in Misskredit zu bringen. Glanzvolle Hosenrolle für Sunnyi Melles als Papst Leo X., der sich in einem blütenweißen Papamobil per Pedalbetrieb zu seinem Elefanten Hanno kutschieren ließ. Denn außer der Macht und der Bekämpfung des Ketzers Luther interessierte ihn nur das Wohlergehen seines Rüsseltieres, während Kurfürst Joachim von Brandenburg (sportlich: Jan Thümer) die ihm anvertraute Prinzessin Elisabeth von Dänemark (stets präsent: Julischka Eichel) zu ehelichen Pflichten zwang. Kein Wunder, dass sie am Ende den bitteren Wahrheiten des Leibarztes und Luther-Freundes Ratzenberger (Konstantin Bühler) ihr Vertrauen schenkte und zu den Lutheranern konvertierte. Auf Lili Iszaks Wormser Bühne glänzte alles gülden bis hin zu Gerüst und Rutsche, auch wenn die Welt buchstäblich aus den Fugen geraten schien. Vortrefflich auch Flora Lili Matisz einfühlsame musikalische Kommentierungen. Langweilig wurde es an diesem Abend nie! Denn der abwesende Herr Luther hatte sie alle im Griff!
Burkhard Jellonnek im OPUS Kulturmagazin Nr. 87 (Sept. /Okt. 2021)