Brilka // Copyright: Kaufhold
Saarländisches Staatstheater Saarbrücken
Großer Theaterabend in der Alten Feuerwache
Schauspielchefin Bettina Bruinier inszeniert georgische Familiensaga mit Bravour
von Kurt Bohr
Mehr als 1.200 Seiten stark ist die Romanvorlage der Georgierin Nino Haratischwili, aus der Emilia Linda Heinrich, Julia lochte und Jette Stockel eine berückende Bühnenfassung geschaffen haben.
Es geht um die schicksalhafte Verstrickung der beiden georgischen Familien Jaschi und Eristawi, eine Geschichte, die von der russischen Oktoberrevolution bis zum Jahre 2006 reicht. Im Mittelpunkt steht die Stasia, die Urgroßmutter der 12-jährige Brilka, die ausgerissen ist und sich in den Kopf gesetzt hat, ein Tanzstück mit den Liedern Ihrer Urgroßtante Kitty auf die Bühne zu bringen. Aber der Reihe nach.
Stasia ist die alles beherrschende Persönlichkeit dieser Familiensaga. Gabriela Krestan, langjähriges Ensemblemitglied des Staatstheaters, verkörpert diese grande Dame mit stupender Bühnenpräsenz. Wie sie tänzelt, gurrt, schmeichelt, die Gemüter beruhigt, aber auch mahnt und fordert – sie agiert glanzvoll, ist allen Lebenslagen gewachsen, katastrophischen Schicksalsschlägen ebenso wie euphorischen Glücksmomenten. Eine Rolle, die ihr geradezu auf den Leib geschrieben ist.
Es ist ein für die heutige Inszenierungspraxis mit vier Stunden Aufführungsdauer ein recht langer Theaterabend, aber dank der konzentrierten und über aus spannenden Inszenierung von Bettina Bruinier vergeht die Zeit wie im Fluge. Volker Thiele hat eine auf den ersten Blick ziemlich einfache, aus dem Parkett aufragende und leicht ansteigende Bühne geschaffen. Aber die hat es in sich: sie ist mit quadratischen dünnen Holzplatten ausgelegt, die aufgeklappt werden für überraschende Auftritte der Protagonisten, aber auch wütend zugeschlagen werden, wenn die Dramatik kulminiert. Diese Platen werden auch mal sanft gelüftet, um einem Pärchen den Rückzug für die Liebe zu öffnen. Und aus den Platten wachsen schließlich auch Tische aus dem Bühnenboden, an denen man plaudert, die aber auch in Rage umgeworfen werden.
Die enorme Vielfalt und Fülle des Geschehens bewältigt die Regisseurin in souveräner Manier. Obwohl häufig alle neun Protagonisten gleichzeitig und in parallelen Handlungssträngen auf der Bühne agieren, verliert man als Zuschauer nie den Überblick. Bruinier gelingt das mit dem Kunstgriff, dass die „dramatis personae“ innehalten, verharren und selbst über den Fortgang der Handlung und über sich selbst berichten. Dabei kann sich Bruinier auf die vorzügliche Choreographie von Mohan C. Thomas stützen, der das Ensemble anmutig tänzerisch und schreitend in Bewegung hält uns so die dramatische Entwicklung befördert.
In dieser Familiensaga geht es ganz schön zur Sache. Stasia‘s Sohn Kostja will wie seine Mutter, aber auf seine Weise – er ist Mitarbeiter des Sowjetischen Geheimdienstes und bestens vernetzt – die Familie auch in konfliktreichen Situationen zusammenzuhalten. Bernd Geiling verkörpert diese zwielichtige Figur wandlungsfähig: mit Härte und Brutalität, wenn es darum geht seine Schwester Kitty In Sicherheit zu bringen, aber auch als zärtlicher Liebhaber und treusorgender Vater, der alles daran setzt, seiner Tochter eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Verena Bukal spielt Stasias Schwester Christine, die sich auf eine folgenschwere Affäre mit dem berüchtigten sowjetischen Geheimdienstchef Berija einlässt. Im Zorn verätzt er ihr Gesicht mit Säure, ein Mitglied der Familie wird ermordet. Christine beweist jedoch Charakterstärke, als sie sich mit ihrem mächtigen Bruder Kostja Bruder anlegt, um eine jungen Dissidenten zu schützen.
Christiane Motter spielt Kitty, die empathische Schwester Kostjas, die ins Ausland fliehen muss und dort als stimmstarke Jazzsängerin überrascht. Lebhaft und überzeugend gibt Martina Struppek Kostja’sTochter Elene als freches Göre, die dem Bildungsstreben ihres Vaters an einer Moskauer Schule nur widerwillig folgt, vorzeitig auf Betreiben ihrer Großmutter Stasia nach Georgien zurückkehrt und ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Deren Tochter ist Daria (Lisa Schwindling), die Mutter von Brilka, die zwölfjährig auf einer Gastspielreise nach Deutschland von Ihrer Gruppe ausgerissen ist. Einen starken Auftritt hat auch Natalia Joselewitsch als Daria‘s Schwester Niza, die Ausgerissene suchen und nach Hause schicken soll.
Enorme Flexibilität und Vielseitigkeit zeigen schließlich Michael Wischniowski (u.a. als Stasia‘s Mann Simon und Mitglied der weißen Garde) und Barbara Krzoska (u.a. als Brilka), die jeweils sechs Rollen verkörpern und so die Familien Eristavi und Jaschi komplettieren.
Hervorzuheben sind auch die zahlreichen Videos von Ayse Özel, die die historischen Hintergründe der Zeitreise treffend ins Bild setzt. Sie hat auch die zeitgeistig passenden Kostüme geschaffen.
Lebhafter und lang anhaltender Beifall für einen superben Theaterabend mit dem winzigen Wermutstropfen, dass im zweiten Teil der Spannungsbogen leicht abfiel