Ein Hammer-Stück: „Festen“ als Abschluss des diesjährigen Festivals „Perspectives“ © Simon Gosselin (Festival Perspectives)
von Burkhard Jellonnek
Die ältere Dame in der Reihe unterhalb schüttelt fassungslos den Kopf: so etwas Schlimmes auf der Bühne habe sie nicht erwartet. „Die Realität ist schlimmer“, antworte ich ihr mit gedrückter Stimme. In jeder Schulklasse, sagen Experten, sitzen zwei, drei Kinder, die Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben. Deshalb ist dieses Hammer-Stück „Festen“, zweimal gespielt zum Abschluss der diesjährigen Festivals Perspectives so wichtig, auch wenn es einem den Atem raubt, man sich das Ende herbeisehnt. Man schaut in den Abgrund einer menschlichen Seele, eines erfolgreichen Familienvaters, der zum 60. Geburtstag seine Familie in seine luxoriöse Villa eingeladen hat. Es mangelt nicht an dienstbaren Personal, nicht an erlesenen Speisen und Getränken. Sohn Christian packt statt der wohlmeinenden Geburtstags-Lobhudelei das tiefschwarze, verstörende Familiengeheimnis um den jahrelangen sexuellen Missbrauch des Vaters Helge an seinen beiden heranwachsenden Kindern aus. Und während die Familie versucht, die Rede mit dem Hinweis auf Christians psychische Erkrankung zu entschärfen, taucht auf einmal der Abschiedsbrief der aus Scham in den Selbstmord geflüchteten, kleinen Tochter Linda auf. Er bestätigt das scheinbar Unaussprechliche, dass der unbelehrbare Vater Helge weiterhin als sein „gutes Recht“ ansieht und zu rechtfertigen versucht. Bereits vor zwanzig Jahren hat der Spielfilm „Festen“ von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov das Filmfestival von Cannes seines schönen Scheins beraubt. Das bei den Perspectives vorgestellte Theaterstück, eingerichtet von Cyril Teste, bedient sich auch der filmischen Unterstützung, um immer wieder in Großaufnahmen die Gesichter der Schauspieler des Collectifs MxM zu zeigen, wie sie sich ihre Realität zusammenlügen, um die entsetzliche Wahrheit unter den Teppich zu kehren. Ein beeindruckendes Finale der diesjährigen Perspectives: Ein Paukenschlag, Weckruf auch im Namen des Saarbrücker Opfers Pascal und all der ungezählten Kinder und Jugendlichen, die Opfer sexualisierte Gewalt in unserer immer noch häufig wegschauenden Gesellschaft werden.
Burkhard Jellonnek
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