Kolonnen von Häftlingen zwischen den Baracken von Auschwitz: „Kamp“ vom Figurentheater „Hotel Modern“ © Leo van Velzen (Festival Perspectives)
von Burkhard Jellonnek
Ein Stück über den Holocaust, ein Stück über Auschwitz wie kein zweites. Vor mehr als zehn Jahren hat die Tochter eines Auschwitz-Überlebenden mit ihrem niederländischen Figurentheater-Kollektiv „Hotel Modern“ die Idee zu „Kamp“ entwickelt und tausende streichholzgroßer, individuell gestalteter Puppen gefertigt, die mittels aus der Medizintechnik stammender Kameratechnik zu Kolonnen von Auschwitz-Opfern werden. Während die Puppenspieler ihre Lagerwelt „en miniature“ durchschreiten, übertragen die Minikameras das Gezeigte auf die Großbildleinwand. Die „Perspectives-Gemeinde“ erlebt einen Tag in Auschwitz. Die Ankunft der Züge, das Eintreffen an der Rampe, die Selektion, vom Mengeles Daumen gesteuert, in die Gruppe der umgehend zu vergasenden und die für die Vernichtung durch schwerste Arbeit vorgesehen Opfer. Auch wenn man einzelne Schicksale sieht – grauenhaft wird die Figur eines entkräfteten Häftlings mit Gewehrkolben totgeprügelt, Häftlinge laufen als Selbstmörder in die Elektrozäune, lernt der Zuschauer kein einziges Opfer wirklich persönlich kennen. Das Theaterkollektiv führt uns die Entpersönlichung des Vernichtungssystems vor Augen: die Häftlinge bekommen Nummern eintätowiert, verlieren jeglichen Namen, ihre Persönlichkeit, ihre Herkunft, ihre Geschichte. Und: das ist das Ungewöhnliche: der Zuschauer begleitet sie in die Gaskammern, sieht, wie das tödliche Zyklon B in die Schächte gefüllt wird, sieht wie anschließend die Leichen herausgekarrt und zu den Verbrennungsöfen gebracht werden. Möglich wird dies durch die Verfremdung des Puppenspiels. Manch einem ist dieser Kunstgriff zu hart, wie die anschließenden Diskussionen mit dem Publikum zeigen. Aber es ist heute notwendiger denn je, auf diesen Zivilisationsbruch des Dritten Reiches nachhaltig aufmerksam zu machen. Über sechs Millionen Juden hat er ihr Leben gekostet. Wie kann es sein, dass der Antisemitismus von einst heute wieder Urständ feiert, in welchem Gewand auch immer. Man darf Perspectives dankbar sein, diesen Impuls im Spielplan gesetzt zu haben.
Burkhard Jellonnek
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