Schauspielchefin Anna Bergmann © Felix Grünschloß, Staatstheater Karlsruhe
Auch das Staatstheater Karlsruhe musste wegen der Corona-Pandemie alles stoppen. Anna Bergmann verlegte ihr Büro für ein paar Tage aufs Land in Sachsen-Anhalt, wo sie ihre Mutter und ihre Großmutter mitversorgte. Wir telefonierten mit der Schauspieldirektorin und sprachen über ein Theater ohne Publikum, Online-Angebote und Konzepte für die nächste Spielzeit.
Frau Bergmann, was macht eine Schauspieldirektorin ohne Spiel- und Probenbetrieb?
Anna Bergmann: Das ist eine schlimme Situation, weil wir gerade erst mit einem unserer wichtigsten und interessantesten Projekte angefangen haben, nämlich „Die Neuen Todsünden der modernen Gesellschaft“ nach Mahatma Gandhi. Wir hatten Leseprobe und am nächsten Tag hieß es, dass der ganze Betrieb gestoppt wird. Meine letzte Regiearbeit war die Spielzeiteröffnung mit „Passion“ nach drei Filmen von Ingmar Bergman. Das war im Oktober und seither habe ich nicht mehr inszeniert. Ich fühle mich wie ein Rennpferd, das in der Box sitzt und darauf wartet, dass es losgeht. Das stürzt einen schon in eine Depression, weil man erstmal dazu verurteilt ist, nichts zu tun. Jetzt versuchen wir, das Beste aus der Situation zu machen.
Inwiefern?
Wir sind natürlich im Kontakt, die Schauspieler lernen ihre Texte. Aber keine Skype-Konferenz ersetzt eine richtige Probe am Theater – das ist ein komplett anderes Arbeiten. Ich lese außerdem Stücke und ich überlege mir, wie wir die Spielzeit 20/21 gestalten. Ich bin permanent in Kontakt mit den Dramaturginnen und unserem Intendanten Peter Spuhler. Wir versuchen, wenn es wieder weitergeht, direkt mit Veranstaltungen zu starten: spontan und kreativ – das, was wir Künstler besonders gut können. Das ist unsere größte Hoffnung, unser Wunsch.
Viele Kultureinrichtungen haben inzwischen Online-Angebote. Halten Sie das für eine gute Idee?
Bei uns gibt es solche Angebote auch. Das ist gut, aber ich halte nichts davon, Live-Mittschnitte von Proben zu zeigen. Es gibt ja immer auch Mittschnitte von Inszenierungen, doch sie dienen eigentlich nicht dazu, der Öffentlichkeit gezeigt zu werden. Wir produzieren stattdessen Beiträge mit kleinen Lesungen und persönlichen Geschichten fürs Netz, damit wir den Zuschauern im Gedächtnis bleiben. Ich glaube außerdem, dass so eine Theaterdiät wieder Lust auf mehr Theater macht, wenn die Corona-Krise vorbei ist.
Dann steht die Premiere der „Die Neuen Todsünden“ an. Können Sie von diesem Projekt berichten?
Wir haben sieben Autorinnen aus sieben Ländern beauftragt, zu jeweils einer der Neuen Todsünden, die Mahatma Gandhi in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts formuliert hat, ein kurzes Stück zu schreiben. Es ist ein spartenübergreifendes Projekt, mit einer neu komponierten Oper und mit einer tanzenden Figur, die durch den Abend führt.
Wie bearbeiten die Autorinnen Gandhis Thesen?
Bergmann: Es gibt zum Beispiel ein Stück zum Thema „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ der aserbaidschanische Theatermacherin Marina Davydova. Darin geht es um einen Wissenschaftler, der Menschenexperimente durchgeführt hat und an Demenz erkrankt. Außerdem gibt es von Elise Schmit eine Kammeroper zum Thema „Genuss ohne Gewissen“ – eine Zukunftsvision. Menschen ernähren sich darin nur noch von Insekten und in einem Einkaufszentrum wird der letzte lebende Fisch gefangen. Die Oper ist eine Übersetzung zur Massentierhaltung und wie wir mit unserem Planeten umgegangen sind. Am Ende stehen wir vor der Gewissensfrage, was wir bereit sind, für unseren Genuss preiszugeben. Wenn ich jetzt lese, dass das Coronavirus scheinbar daher rührt, dass Menschen in China auf Wildtiermärkten unbedingt Gürteltiere kaufen müssen und sie verspeisen, weil sie glauben, dass sie Heilstoffe entfachen, dann ist das die Rache der Natur. So hat jeder Aspekt des Projekts mit unser jetzigen Situation zu tun.
Sie hatten in den vergangenen beiden Spielzeiten mit weiblichen Themen und Stimmen ein politisches Statement abgegeben. Werden Sie diesen Weg weitergehen?
Bergmann: Ich glaube nach wie vor dran, dass es wichtig ist, das Thema nicht zu vergessen. Wir setzten bewusst auf Autorinnen im Kleinen Haus. Aber wir werden natürlich auch wieder mit Männern zusammenarbeiten und uns mit weit gefächerten Fragen befassen, nicht nur mit der Frauen- und Geschlechterthematik. Gerade in Zeiten wie der jetzigen ist es wichtig, die Leute auch zu unterhalten und ihnen das Gefühl zu geben, in eine andere Welt tauchen zu können, um für einen Moment zu vergessen, was draußen los ist.
Gehen Sie mehr in Richtung Komödie?
Wir planen auf jeden Fall musikalische Abende und Komödien. Ein besonderes Projekt ist die Bühnenadaption des Films „Toni Erdmann“. Wir haben von Regisseurin Maren Ade die Rechte dafür bekommen. Sie ist ja Karlsruherin und ihr Vater, das Vorbild für Toni Erdmann, lebt in Karlsruhe.
Interview Astrid Möslinger im OPUS Kulturmagazin Nr. 79 (Mai / Juni 2020)