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Aus OPUS 112: Solitudo hominis essentia – Streiflichter aus der Philosophie

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Von Ulf Scharrer 

Barlachs Skulptur „Der Einsame“ eröffnet verschiedene Deutungsebenen: ein Suchender, als solcher einsam, vielleicht furchtsam, isoliert – ebenso „ein Gleichnis dafür, dass der Mensch in der Welt unbehaust ist“, so Kunsthistorikerin Dagmar Lott-Reschke. Beide Ebenen durchziehen auch philosophische Ansätze. Grundsätzlich gründen dabei unterschiedliche Einschätzungen dessen, was Einsamkeit sei, auf der Kernfrage: Was ist des Menschen Wesen?

Auf der einen Seite haben wir Aristoteles’ Diktum des Menschen als politischem Lebewesen: Wer nicht in Gemeinschaft leben könne oder sie nicht brauche, stehe auf der Stufe eines Tieres oder eines Gottes. Wie der Philosoph Tzvetan Todorov feststellt, liegen diese Pole bis heute vielen Untersuchungen und Typisierungsversuchen zugrunde. So ist Einsamkeit oft negativ besetzt, schon bei Melvin Seeman, der dafür fünf Typen der Entfremdung setzt: Machtlosigkeit, Bedeutungslosigkeit, Normlosigkeit, Isolation und Selbstentfremdung. Einsamkeit als Neurose von Menschen, die nicht passen? Dagegen wandte sich 1959 der Philosoph Rubin Gotesky und unterschied physisches Alleinsein aufgrund räumlicher und zeitlicher Trennung, Einsamkeit aufgrund von Zurückweisung, Isolation aufgrund gesellschaftlicher Ausgeschlossenheit und positiv konnotierte Einsamkeit „ohne den Schmerz von Alleinsein und Isolation“. Ähnlich ein Team der Universität Thessaloniki, das erzwungene Einsamkeit, Einsamkeit durch Zurückweisung und freiwillige Einsamkeit unterscheidet.

Anders der Philosoph Lars Svendsen. Er erachtet Einsamkeit als notwendig, eben weil wir soziale Lebewesen seien: „Eine Person, die sich nie einsam fühlt, leidet vermutlich an einem Mangel an oder einem Defekt in der emotionalen Ausstattung.“ So unterscheidet er „positive“ Einsamkeit als zeitweilige „soziale Abstinenz“, der wir alle bedürfen, und „negative“ als Unfähigkeit zu sozialen Bindungen, als Isolation. Entsprechend plädiert er, wie zuvor schon Odo Marquard, für eine „Einsamkeitskompetenz“.

Gerade diese „Kompetenz“ kommt nach klassischer Auffassung wenigstens zeitweilig Philosoph:innen zu: Rückzug von der Welt und ihrem Getriebe, von vorgefassten und selten wahren Meinungen, z. B. bei Cicero. Nebenbei: Führt ein Weg von Aristoteles’ Gott zu Nietzsches Übermensch?

Auf der anderen Seite haben wir neuere Ansätze, welche Einsamkeit als Wesen des Menschen bestimmen. Hier ist nicht zu reden von Heidegger, der Einsamkeit zwar als existentielle Grundform des Menschen sieht, sie aber in einem „Mitsein“ als aufgehoben betrachtet. Bereits Karl Jaspers schrieb 1915: „Ich sein heißt einsam sein. Wer ‚Ich‘ sagt, richtet eine Distanz auf, zieht einen Kreis um sich. Aufgabe der Einsamkeit ist Aufgabe des Ich. Einsamkeit kann es nur geben, wo es Individuen gibt. Wo es Individuen gibt, aber gibt es beides: die Lust zur Individualität und damit den Drang in die Einsamkeit und das Leiden an der Individualität und damit den Drang aus der Einsamkeit.“

Ähnliches formuliert John Powys in „Philosophy Of Solitude“ (1933), dem ersten Buch zum Thema: „Jeder Mensch ist im Kern seines Geistes einsam.“ Demnach „ist das bewusste ‚Ich bin Ich‘ in uns absolut allein“. Aus der Selbstbezogenheit des Ich, aus seiner Unverfügbarkeit, seiner existentiellen Einsamkeit schließt Powys die menschliche Würde.

Diese Gedanken führt Ben Mijuskovic weiter: „Alle Menschen sind tiefgreifend einsam, und alle Menschen versuchen, dieser Lage zu entfliehen.“ Er begründet das über die grundlegende Struktur unseres Selbst-Bewusstseins, führt Goteskys Typen auf die grundlegende existentielle Einsamkeit zurück, Wesen des Menschen zu allen Zeiten und überall. Nicht zuletzt konstituieren nach Mijuskovic die aussichtslosen Versuche, der Einsamkeit zu entkommen, den Menschen erst zu einem sozialen Lebewesen. Mit Angst und Frust als unbewusstem Resultat der Einsamkeit begründet der Philosoph Narzissmus, Grausamkeit, Rassismus, Nationalismus und ähnliche Geißeln der Menschheit.

Streiflichter nur. Wesentlich ist die Einsamkeit des Menschen, die ihn nicht zuletzt vor Zugriffen schützt, sein Eigen-Sein garantiert, manche Zurückweisung vielleicht erträglicher macht – und Besinnung ermöglicht.

Foto: Ernst Barlach, Der Einsame (1911) © Rufus46, Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

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